Fehlt noch ein Baum
die Oberschwester durchsuchte uns hin und wieder und zog Nüsse, Gebäck und Kuchen aus den Nachtschränken und unter den Betten hervor. Wir ernährten mit unseren Delikatessen das gesamte Krankenhauspersonal. Sie schrie uns an:
»Wie viel kann man eigentlich in sich hineinstopfen! Habt Mitleid mit euren Kindern! Ihr bekommt doch Ãdeme davon! Und die Kinder werden krankheitsanfällig. Meine Tochter hat während ihrer Schwangerschaft sogar drei Kilo abgenommen und einen gesunden Jungen zur Welt gebracht. Dreieinhalb Kilo!«
Ich war nicht ihrer Meinung, dass man sich währendder Schwangerschaft einschränken müsse, um nicht zuzunehmen. Jegliche Diät ist Sadismus.
Vielleicht ist die Gestose die natürliche Begrenzung des übermäÃigen Appetits einer Schwangeren? Und das Sodbrennen ebenso?
Eine drohende Gestose ist die GeiÃel der ersten Monate. Eine Schwangere hat einen Geruchssinn wie ein Hund und Augen wie ein Adler. Man riecht etwas und möchte es essen. Gleich darauf hat man keine Lust mehr und bekommt nichts mehr hinunter. Das ist die Hormonschaukel am Galgen der ersten drei Monate. Danach wird alles besser. Der Nestbau beginnt. Man liest seinem Mann das Buch
Mein Kind
laut vor, der wiederum nickt und schaut drein wie ein Psychiater. Dann setzen Träume von Stoffwindeln ein und man macht Pläne für einen Urlaub mit dem Neugeborenen, gleich nach der Entbindung â¦
Man meint, dass die ersten neun Monate für einen Menschen das intrauterine Paradies seien. Die völlige Geborgenheit und das Nirwana.
Doch wenn man auf die Mikropsychoanalytiker hört, die das psychische Leben von der Zeit in der Gebärmutter an untersuchen, so sieht es genau andersherum aus.
Bei ihnen läuft alles darauf hinaus, dass die Geburt für einen Menschen nicht der Verlust des Paradieses ist, sondern eine Befreiung aus der intrauterinen Hölle, wo er wie ein Sträfling kopfüber zu hängen verurteilt ist und fürchten muss, dass man ihn vor Ablauf seiner Entwicklung jederzeit herausziehen und ihn damit in den sicheren Tod schicken kann. Der Vater droht dem Ungeborenen mit seinem Penis, den er immer wieder zu Gesicht bekommt. Die Mutter quält sich und ihrBaby mit Gedanken: Warum habe ich mir mit der Schwangerschaft nicht länger Zeit gelassen?
Das ist kein neunmonatiges Paradies, sondern nur ein unterschwelliger tagtäglicher Krieg â wer zeigt es wem?
Mich hat zum Beispiel in diesem Krieg Vera dann doch noch besiegt.
Meine Freunde, Bekannten, ehemaligen Kollegen und Verwandten. Jeder von ihnen kam wenigstens einmal, um sich davon zu überzeugen, dass ich wirklich schwanger bin. Jeder brachte ungefähr ein, zwei Kilo Obst mit. Bereits am Ende der zweiten Woche im Krankenhaus hätte ich ein kleines Obst- und Gemüsegeschäft eröffnen können, erst recht zusammen mit den Anteilen meiner Zimmergenossinnen, die ebenfalls mit Bananen und Ãpfeln überhäuft wurden.
AuÃerdem brachte mir jeder meiner Freunde als Zugabe zum Obst noch zwei Tüten Fruchtsäfte mit. Ich hatte den meisten Saft unter den Patientinnen. Vielleicht sah ich dehydriert aus?
Ich stopfte mit den Säften den Krankenhauskühlschrank voll und erfreute mich zwischen den Gestose-Anfällen am Anblick der Punica-Oase. Ãber einen derartigen Reichtum an alkoholfreien Getränken verfügte ich zum ersten Mal im Leben.
»Dir gehtâs ja gut«, lachte eine Bekannte, die mich besuchte. Früher hatte sie einmal in derselben Klinik gelegen, praktisch im selben Bett wie ich. Sie war auf kuriose Weise schwanger geworden. Nach acht Jahren fruchtloser Versuche infizierten sie und ihr Mann sich mit Chlamydien. Wer wen angesteckt hatte, blieb im Dunkeln. Die Ehe stand am Rande des Zusammenbruchs. Beide kurierten sich mit Antibiotika, und dawurde sie schwanger. Das Medikament hatte, so die Ãrzte, ihre Mikroflora zerstört, die für die Samenfäden ihres Mannes tödlich gewesen war.
»Warum spricht man eigentlich immer von der Mikroflora und nicht von der Mikrofauna?«
»Weil mit Mikrofauna die Filzläuse gemeint sind, Ira!«
»Willst du damit sagen, dass Filzläuse Tiere sind, Syphilis hingegen Blumen?«
Unter Langeweile litt ich also nicht, die Gäste kamen in Scharen, mit Ausnahme von Veras Vater, der es geschafft hatte, sich in der ersten Woche meines Krankenhausaufenthalts das Bein an drei Stellen zu brechen.
Seine
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