Feind
Sie hat Angst vor uns, sonst wäre sie nicht geflohen.«
Es waren beinahe die gleichen Worte, die Helion wenig später
gegenüber den Feldherren benutzte. Sie waren nur noch zu zweit: Kentateos, der
Anführer der Mondschwerter, der wiederum vergeblich nach einem Feind gesucht
hatte, der in der Lage war, seinem Leben ein Ende zu setzen, und Graf Dimmoar,
der den Angriff der vergangenen Nacht geleitet und mit einer Kopfwunde dafür
bezahlt hatte, die die linke Seite seines Gesichts unter einem Verband
verschwinden ließ. »Es ist ein großer Sieg«, murmelte Letzterer. »Jetzt kommt
es darauf an, ihn weise zu nutzen. Wir dürfen ihn nicht zu einer Niederlage
werden lassen. Wenn wir halten, was wir gewonnen haben, wird das ein Fanal für
die freie Welt sein. Wenn wir kopflos nachsetzen und geschlagen werden, wird
das die Nachricht vom Sieg verdunkeln.«
Helion starrte Kentateos an. Dem Rang nach hätte er sich ihm
gegenüber ehrerbietig erweisen müssen, aber solche Dinge zählten nicht in einem
geschlossenen Zelt am Rande eines Schlachtfelds, das ihn zum Helden geschmiedet
hatte.
Kentateos zog die Stirn in Falten. »Ihr werdet keinen in unseren
Reihen finden, der ohne Wunden aus der Schlacht gekommen ist. Selbst wenn wir
ein Heer von einiger Schlagkraft zusammenstellen könnten, würde ich es nicht
nach Osten führen. In dieser Richtung ist es nicht weit bis Amdra mit seinem
Nachtschattenwald. Sollen die Fayé Lisanne den Gnadenstoß geben. Wenn sie es
nicht tun, bringen auch wir es nicht zustande. Aber im Norden liegt ein
lohnendes Ziel, die Silberminen von Fenarra. Zwei Tagesmärsche, drei bei
schlechtem Wetter.«
»Haben wir nicht gerade das Silber von Guardaja gesichert?«
»Auch das wird sich irgendwann erschöpfen. Das Silber ist das Tor
zum Sieg, Paladin! Das wisst Ihr!«
Helion knirschte mit den Zähnen. Er dachte an die Waffen und
Rüstungen der Mondschwerter, die auf einem speziellen Karren gesammelt wurden.
Sicher würde Kentateos später die Rubine aus den Schwertern der Gefallenen
entnehmen. Das war die Aufgabe des Heerführers. Dann würde alles nach Akene
geschickt, in den Tempel der Mondmutter, um neuen Paladinen zu dienen. Von
denen die meisten ein Leben als Würdenträger an Fürstenhöfen voller Luxus
anstrebten. Helion lachte bitter.
»Was amüsiert Euch? Haltet Ihr uns für altersschwache Recken, die
der Mut verlassen hat?«
»Wie könnt Ihr aufgeben? Ist es nicht unsere Mission, die Welt von
Lisannes Finsternis zu befreien?«
»Das ist Euer Auftrag, nicht der unsrige. Wir haben einen Krieg zu
gewinnen.« Dimmoar legte eine Hand auf Helions Schulter. »Dabei wärt Ihr von
großem Nutzen. Ihr habt bewiesen, dass Ihr kämpfen könnt. Wie viele Gardisten
habt Ihr erschlagen?«
Helion schnaubte. »Ein Dutzend, vielleicht mehr. Kommt es darauf
wirklich an? Die Schatten des Nordens gebären in jeder Nacht hundert neue, wenn
sie es wollen. Es geht um Lisanne. Drei Monde stehen am Himmel, drei Versuche
müssen es sein, um den Sieg zu erringen!«
»Wie wollt Ihr das schaffen? Ich wiederhole mich nur ungern, aber
Modranel ist nicht mehr.«
Helion schluckte. »Das weiß ich. Und auch ich habe viel verloren in
den letzten Nächten. Es wäre leicht, mich der Trauer zu überlassen. Oder den
Zweifeln. Glaubt mir, ich martere mein Herz unablässig. Ich hätte meine Leute
nicht so leichtsinnig in Lisannes Palast führen dürfen, und in Guardaja hätte
ich meine Gefühle besser beherrschen müssen. Sie sind meine größte Schwäche,
das hat schon Meister Treaton erkannt. Aber Trauer und Zweifel helfen mir
nicht. Sie helfen uns nicht. Uns hilft nur, Lisanne endlich zu erschlagen.«
»Entschlossenheit ist eine gute Sache«, sagte Dimmoar in einem
Tonfall, als redete er mit einem Kind. »Aber bei Euch scheint sie wenn nicht
ziel-, so doch mittellos. Was wollt Ihr tun? Eure mächtige Waffe ist
zerbrochen. Was wollt Ihr gegen die Schattenherzogin ins Feld werfen?«
Kentateos sah ihm in die Augen. »Glaubt Ihr wirklich, besser als wir
zu wissen, wie dieser Krieg zu führen ist?«
Helion horchte in sich hinein. Die Frage des verdienten Mondschwerts
fand starken Widerhall in seiner Seele, verlangte nach einer Antwort ohne
Ausflüchte. Was glaubte er wirklich?
Er glaubte an die Mondschwerter. Zumindest an diejenigen von ihnen,
die hier in Guardaja fochten. Und an Giswon, ihren Ordensmarschall, der einen
merkwürdigen Weg beschritt, der jedoch zum Ziel hatte, den Kameraden an der
Front den Rücken zu stärken,
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