Feind
den Drang ab, aber sie wusste, dass diese Verwerfungen niemandem
verborgen bleiben konnten, der auch nur ein schwaches Gespür für Magie hatte.
Insbesondere die Osadroi in der Festung mussten bemerkt haben, was hier
geschah. Wahrscheinlich wussten sie sogar, wie es um Lisanne bestellt war. Aber
welche Schlüsse zogen sie daraus? Eilten sie herbei, um zu helfen? Oder
warteten sie ab, in der Hoffnung, selbst den Thron des Herzogtums beanspruchen
zu können? Oder waren sie ebenso von Entsetzen erfasst wie Lióla? Wann war
Vergleichbares jemals geschehen? Eine Schattenherzogin – an der Schwelle des
Todes!
Sie erreichten den Kerker. Prinz Varrior sah ihnen interessiert
entgegen. Er würde kaum noch Zeit haben, in seiner frechen Arroganz zu schwelgen!
Sie griff die längste Klinge, die das Folterbesteck hergab, und
rammte sie dem Gefesselten in die Brust. »Wisse, du stirbst zur höheren Ehre
der Schatten!«, schrie sie ihm ins Gesicht. »Ich fordere dein Leben für
Lisanne!«
Lióla schloss die Augen. Unter anderen Umständen wäre es eine kaum
verzeihliche Verschwendung gewesen, die Essenz auf diese Art zu ernten. Das
meiste verflog ungenutzt. Aber was immer sie zu fassen bekam, rief sie zusammen
und zwang es zu Lisanne, die auf Brünettas unbewegten Armen lag. Ihr Kopf hing
genauso kraftlos herunter wie die Glieder, sodass das schwarze Haar den Boden
berührte.
»O Finsternis, erstarke!«, flehte Lióla. Es war so wenig, was den
Weg zu Lisannes Gesicht fand, wo sie es einatmen konnte. Würde es ausreichen?
Konnte eine so kümmerliche Menge der Sterblichkeit Einhalt gebieten?
Lióla riss an dem Messer, aber Varrior war bereits tot. Sie konnte
ihm keine Schmerzen mehr zufügen, seinen Schrecken nicht erhöhen, ihm keine
weitere Essenz entreißen. Sein Körper war ein leeres Gefäß. Enttäuscht zog sie
die Klinge aus der Wunde und betrachtete ihr Spiegelbild in dem darauf
schimmernden Blut.
Sie erwog, nun doch die eigene Lebenskraft zu opfern, als Modranel
in der Tür auftauchte. Er trug sogar noch seine alberne Laterne mit sich herum!
Der Mann, der die Macht der Schatten hätte teilen können, sah aus wie ein
zahnloser Tattergreis, der als Nachtwächter durch eine Bibliothek schlurfte. Er
war so erbärmlich, dass es Lióla ekelte. Und solch ein Gewürm wagte, Hand an
Lisanne zu legen, die Verkörperung von Schönheit und Würde! Liólas Wut brach
mit einem unartikulierten Schrei aus ihr heraus.
Modranel sah sie an, als sei sie eine Erscheinung. »Meine Tochter«,
flüsterte er.
Was bildete sich dieser Unwürdige ein? Tauchte nach fünfzehn Jahren
aus dem Nichts auf, drohte alles zu zerstören, wofür Lióla lebte, und nannte
sie ›Tochter‹! Sie lachte und hörte in dem Geräusch den Wahnsinn nahen. Ihr
Verstand drohte zu entgleiten.
Modranel streckte die Hand aus, als wolle er sie streicheln, obwohl
zwei Schritt Abstand zwischen ihnen lagen. »Meine letzte … meine einzige
Tochter. Ajina ist tot. Hast du sie gesehen?«
Das musste die blonde Schlampe gewesen sein, die zu seinen Füßen
gelegen hatte. Lióla hatte kaum Erinnerungen an ihre jüngere Schwester, aber
die Haarfarbe passte. Ihre dämliche Mutter hatte Ajina ›Sonnenkind‹ genannt und
Lióla ›Mondkind‹, wegen ihrer bleichen Haut. Kein Name hätte weiter von der
Wirklichkeit entfernt sein können. Sie war in einer Nacht dreifacher
Mondfinsternis zur Welt gekommen, deswegen war ihr angeborenes Gespür für Magie
auch so stark.
»Du bist immer meine eigentliche Tochter gewesen, Lióla. Ich habe es
vergessen, aber jetzt, da ich dich sehe … Du bist mir so ähnlich. Ich hätte
dich niemals fortgeben dürfen.«
In seinen Augen glomm die gleiche Hoffnung, die auch Sklaven hatten,
wenn sie dachten, man zöge ihre Freilassung in Erwägung. Er
sucht nach Erlösung, erkannte Lióla. Warum richtete er seine Gefühle
nicht auf Nützlicheres?
Obwohl …
Sie senkte den Blick, damit er nicht in ihr Gesicht sehen konnte.
Mit kleinen Schritten näherte sie sich ihm. Trotz der Kälte brach ihr der
Schweiß aus allen Poren. Modranel war immerhin ein mächtiger Magier. So
mächtig, dass er Lisanne gefährlich werden konnte. Er war geschwächt, aber dennoch
gebot er über Kräfte, die Lióla mit der gleichen Leichtigkeit zu zerquetschen
vermochten, mit der ein Eisenstiefel eine Blume zermalmte. Ihre Unterlippe
zitterte, als seine Hand über ihren Kopf strich, die Finger sanft wie
Schmetterlinge. Zugleich spürte sie über ihre Verbindung zu Lisanne, dass
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