Feind
Nähe haben würde, war ihr unangenehm. Manche
Mondschwerter gingen in ihrem Kampf gegen die Schattenherren so weit, dass sie
danach trachteten, all ihre Gefühle zum Verlöschen zu bringen, um den
Unsterblichen in einer Konfrontation keine Nahrung zu geben. Ajina verstand die
Logik hinter dieser Überlegung, sie hatte mehr als einmal gesehen, wie die
Lebenskraft aus einem Menschen gerissen wurde, aber dennoch gefiel ihr diese
Konsequenz nicht. Wer versteinerte, statt zu leben, war auf einer anderen Ebene
besiegt. Was aber eine Ansicht war, die Keratron keinesfalls geteilt hätte.
Ajina lächelte, als sie merkte, wie Nalaji den Atem anhielt.
Morgen Nacht würde der Mond Stygron voll am Himmel stehen, und die
kundigen Priesterinnen waren gewiss, dass es keine Wolken gäbe. Das machte es
zu einer Roten Nacht, wie es sie alle vierzig Tage geben konnte, und die
kommende hatte Ordensmarschall Giswon bestimmt, um aus den Aspiranten neue
Mondschwerter zu erwählen. Auch Narron, Giswons eigener Schüler, war so weit,
sich der Prüfung zu stellen.
»Sieht er nicht gut aus?«, hauchte Nalaji.
Ajinas Lächeln wurde breiter. In der Tat war Narron ein
wohlgestalteter Jüngling. Sein Blick war klar und brünettes Haar fiel bis auf
seine starken Schultern. Ajina konnte gut verstehen, dass Nalaji davon träumte,
in diesen Armen zu liegen. Im Grunde war eine Rote Nacht auch keine schlechte
Gelegenheit dafür. Die Straßen Akenes würden ein einziger, großer Festsaal
sein, und die jungen Damen waren immer begierig, das Glück der ersten Nacht
eines neuen Paladins in sich aufzunehmen. Nur neigte Narron dem traditionellen
Zweig des Ordens zu, und der missbilligte das frivole Treiben. Ernste Menschen
wie Keratron sahen es lieber, wenn neue Paladine das Glück der ersten Nacht im
stillen Gebet in der Ritterhalle suchten.
Also würde Nalaji wohl noch etwas auf ihren Narron warten müssen,
aber das hieß natürlich keineswegs, dass sie sich die heutige Gelegenheit
entgehen lassen durfte, ihn anzuhimmeln und ihm nahezukommen. Zudem war Nalaji
offensichtlich entschlossen, nach den bisherigen zarten Kontakten auf eine neue
Stufe zu gelangen. Ajina hatte niemals so starken Veilchenduft an ihrer
Freundin gerochen, und gestern Abend hatte sie Nalaji in der Bibliothek über
einer Schrift erwischt, die nur im weitesten Sinne der Heilkunst zuzurechnen
war, beschäftigte sie sich doch mit der Kräftigung und lang anhaltenden Stärkung
eines bestimmten Körperteils, den Nalaji ebenso wenig besaß wie jede andere
Frau.
Nalaji gluckste erfreut, als Narron ihr im Vorbeigehen einen langen
Blick schenkte und sie anlächelte. Sie hüpfte, als sie sich in die Prozession
einreihten, bis Ajina sie in die Seite stieß und sie damit daran erinnerte,
dass dies noch immer ein Trauerzug war. Schließlich brachten sie Waffen und
Rüstungen der Gefallenen heim in den Tempel der Mondmutter, wo sie einst
geschmiedet worden waren. Bei einem der fünf Toten hatten die Kameraden noch
nicht einmal den Rubin bergen können, der im Knauf jedes Mondsilberschwerts
eingefasst war und die Gedanken des Paladins für die Ewigkeit bewahren sollte.
Das Leben dieses Mondschwerts würde vergessen werden.
Aber Akene war nicht in Trauerstimmung. Schon das mit blauen, roten
und silbernen Stoffbahnen reich geschmückte Westtor ließ die stille Prozession
deplatziert wirken. In den Straßen befestigten die Bürger runde Lampions an den
über die Straßen gespannten Leinen, die sie normalerweise benutzten, um Wäsche
zum Trocknen aufzuhängen. Die Empfindsameren unter ihnen wahrten eine
respektvolle Stille, solange die Prozession in der Nähe war, aber sie waren in
der Minderheit. Wer die alten Traditionen in Ehren hielt, wie die Mondschwerter
in ihren Vollrüstungen es taten, galt als Kuriosum. Selbst in den Reihen des
Ordens fanden sich kaum noch Freiwillige für diese Anlässe.
Auf dem Weg durch die Stadt ließ sich Narron zurückfallen, bis er zu
den beiden jungen Frauen stieß. Für Ajinas Geschmack war er etwas zu überzeugt
von der herausragenden Stellung der Paladine, aber wenn sie versuchte, ihn mit
Nalajis Augen zu sehen, sah sie einen stattlichen Mann, bereit, seine Kraft an
allem zu erproben, was das Leben ihm bieten mochte. Klare Züge prägten sein
Gesicht, anders als bei vielen seiner Kameraden war es nicht aufgeschwemmt,
weil er sich Völlerei und übermäßigen Trunks enthielt. Dennoch war er weit von
der Gefühllosigkeit entfernt, die Keratron wie eine zweite
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