Feinde der Zeit: Roman (German Edition)
mich her, wie aus einem fernen Tunnel, während ich an die Worte zurückdachte, die ich in einem anderen Leben, als ein anderer Mensch, über Courtney geschrieben hatte.
Ich hab mir den Mutterleib mit jemandem geteilt – haben wir uns also auch eine Seele geteilt?
Dann liegt die Hälfte meiner Seele jetzt vielleicht tief unter der Erde begraben und kehrt nie mehr zurück.
Mich fröstelt, ohne dass es kalt ist. Ich höre Gewitterstürme, die nicht da sind. In mir ist Raum, den ich nicht füllen kann.
Leere. Kälte. Stürme. Und dann rieche ich den Teppich, höre tiefe Atemzüge, die nicht meine sind.
Wenn ich die Augen aufschlage, ist sie noch immer verschwunden.
Solche Gefühle trieben mich jetzt nicht mehr um. Ich war wieder heil. Wegen Holly. Sie war hier bei mir. Irgendwie war es ihr gelungen, meinen Arm aus dem Sweatshirt herauszuziehen; den Ärmel drückte sie auf mein Ohr und versuchte so, die Blutung zu stoppen. Saß ich oder lag ich?
Irgendwie saß ich. Ich spürte, wie mein Körper schwankte und gegen sie sackte. Als sie versuchte, mich aufrecht zu halten, stießen wir mit den Köpfen zusammen. Durch meinen Kopf jagten in rasendem Tempo Bilder, aber ich sah jedes einzelne davon: Courtney und ich am Heiligen Abend im Schnee. Ich, über Courtneys Sarg gebeugt; ich kneife die Augen zu, um sie nicht länger als eine halbe Sekunde ansehen zu müssen. Ich und Dad; wir schaukeln das Segelboot hin und her, damit Courtney eine Ladung Meerwasser abkriegt. Und Holly, wie sie mich zum ersten Mal küsst. Zum allerersten Mal. Noch immer schmeckte ich sie und spürte die Arme, die sie um mich gelegt hatte. Holly, wie sie in meinem Bett liegt und schläft; wir atmen im Gleichtakt.
Ich schüttelte den Kopf und konzentrierte mich auf ihr Gesicht. Das genau vor mir, nicht das Gesicht, das in meine Erinnerung eingeschrieben war. Dieses sollte das letzte Bild sein, das ich sah. Die Trauer und die Panik in den Gesichtern von Dad, Courtney und Emily wollte ich nicht sehen. Holly, nur Holly .
»Wir müssen ihn ins Haus tragen!«, rief jemand.
»Wenn er Hirnblutungen hätte, würde er schreien, weil der Druckschmerz so groß wäre.« Eine andere Stimme, die ich nicht kannte.
»Lass ihn los«, sagte jemand, der sich über Holly beugte.
Ich hob die Hand, um ihr Gesicht zu berühren, zumindest wollte ich das. Meine Stirn lag noch immer an ihrer. Das ist es; das ist alles, was ich bekomme. Ihre Augen waren jetzt geschlossen, und ich spürte die Welt um mich herum wieder. Ich wollte diesen Schmerz nicht mehr. Nie mehr.
»Hol?«, flüsterte ich, war aber nicht sicher, ob überhaupt ein Ton herausgekommen war. »Sieh mich an.«
Sie schlug die Augen auf, und ich sah sie plötzlich doppelt, verspürte aber sofort Erleichterung. Mein Kopf rollte zur Seite, gegen ihre Schulter. Ich konnte ihn nicht mehr halten. Nur noch wenige Sekunden, und ich würde ganz zur Seite wegkippen. Mein Gesicht berührte ihren Hals, als ich versuchte, ihr den Kopf zuzudrehen. »Hol?«
»Ja, was denn?«, flüsterte sie, als wollte ich ihr einen tollen Fluchtplan verraten, bevor ich starb.
»Gib nicht auf. Es lohnt sich, ich schwöre. Du bist es wert, Holly. Ich hab mich geirrt. Total geirrt.«
Schließlich ließ ich meine Augen zufallen. Die heißen Tränen, die auf meinen Hals fielen, waren das Letzte, was ich fühlte.
Hollys Tränen. Vielleicht war sie einfach von diesem Moment überwältigt. Aber womöglich spürte sie auch die Wahrheit, die in meinen Worten lag, und begriff, dass sie jemanden an ihrer Seite hatte. Sie war nicht allein.
Irgendwer riss uns auseinander, und der verzweifelte Überlebenskampf begann aufs Neue. Meine Finger legten sich um ihren Nacken, und ich flüsterte, so laut ich konnte: »Ich liebe dich.«
Dann landete ich mit dem Rücken im Gras und starrte in die Wolken hoch. Mein Körper entspannte sich, fuhr seine Funktionen langsam herunter. Ich kämpfte gegen die Dunkelheit an, versuchte mich aufzusetzen, wurde aber nach unten gedrückt. Ich machte den Mund auf, doch es kam nichts heraus.
Die Stimmen verhallten, bis es ganz still war, und ich wurde in einen dunklen Tunnel gesogen. Vielleicht für immer.
Dank
Zuerst möchte ich meiner Familie, meinen Freunden und meiner supertollen Gemeinde Champaign-Urbana, Illinois, dafür danken, dass sie mich bei diesem Abenteuer von Beginn an begleitet und mir beim Erscheinen des Buchs beigestanden haben. Mein Dank gilt auch Betsy Su und der Öffentlichen Bibliothek von
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