Feindgebiet
einmal war Sten durch die Maschen geschlüpft.
Virunga saß auf einem Stuhl aus Metallatten, der absichtlich unbequem gestaltet war. Jeder schmerzende Knochen in seinen verkrüppelten Beinen sagte ihm, dass man ihn schon tagelang vor dem Büro des Kommandanten warten ließ. Das schlurfende Geräusch der draußen im Kreis gehenden Gefangenen erinnerte ihn jedoch daran, dass es nicht mehr als vier Stunden gewesen sein konnten. Virunga hatte schon viel zu viele Jahre als Gefangener der Tahn zugebracht, um Derzhins Spielchen nicht zu durchschauen. Das Warten sollte die Gefangenen lediglich weich kochen. Diese Erkenntnis machte es ihm jedoch nicht leichter, bei dem Spiel mitspielen zu müssen.
Von dem Augenblick an, an dem er hereingerufen worden war, hatten sich wieder die alten Selbstzweifel eingestellt. Würde er einer Folter widerstehen können? Es war ihm schon früher gelungen, das schon. Also gut, dann überspringen wir den Teil mit der Folter. (Ich kann nicht. Bitte, ich kann nicht. Sei still! Du musst!) Wie stand es mit den Psychospielchen? Mit Avrenti, Derzhins Experten für die Drecksarbeit, hatte er noch nie näher zu tun gehabt. Aber er hatte ihn gut beobachtet. Der Mann war bestimmt sehr gut, doch Virunga hielt sich selbst für besser. (Verdammt! Sei nicht immer so negativ! Streiche das »hielt« und ersetze es durch »wusste«. Genau. Schon besser.) Versuch es auf andere Weise. Eine Route mit frischerem Wind.
Du hast Fragen, Virunga. Stelle sie ihnen. Lass sie antworten. Warte nicht ab, bis sie die Oberhand gewinnen. Schütte sie mit deinen Fragen zu. Fragen wie … Warum gab es keine Vergeltungsmaßnahmen nach der Flucht?
Virunga und Sten hatten bei ihren Planungen mit Vergeltungsmaßnahmen gerechnet. Es gab nichts, was sie den Sofortmaßnahmen der Tahn entgegensetzen konnten. Bei den ersten ’Wutanfällen würde es sicher Opfer geben, Schläge, gekürzte Rationen, die Zerstörung persönlichen Eigentums bei der Suche nach dem Fluchtweg. Daran konnte man nichts ändern. Doch etwas später, wenn die Besonnenheit allmählich die Oberhand gewann, würde sich ihre Planung auszahlen. In Koldyeze standen zu viele Karrieren auf dem Spiel. Zu viele Fragen würden letztendlich nur in einer Suche nach Sündenböcken resultieren – unaufmerksame Wachen, Offiziere mit fragwürdiger Pflichtauffassung. Die Tahn waren bestimmt vorsichtig, denn sie wussten, dass zuviel Aufhebens den Feinden einen Weg öffnete, um diejenigen zu beschuldigen, die frei von Schuld waren. Und es bestand außerdem die Gefahr, dass die Krise sich ausweitete, aus den Toren hinausflutete und die Politiker erreichte, die all diese faulen Eier in den altersschwachen Korb von Koldyeze gelegt hatten.
Nur um auf Nummer Sicher zu gehen, hatten Sten und Virunga ein fünftes As in den Stapel geschoben. Dieses fünfte As war der Goldene Wurm, den Sten in den Computer implantiert hatte. Es war ein Virus, der Tag für Tag die Produktionsergebnisse manipulierte. Eine vertauschte Dezimalstelle hier, anstelle eines Minus ein Plus dort. Und voilá! Koldyeze erwies sich als derart produktiver Erfolgsschlager, wie es selbst die optimistischsten Tahn nicht für möglich gehalten hätten. Somit hatte Derzhin den absoluten Beweis dafür, dass das Gefangenenlager ein Experiment war, das funktionierte.
Die Tahn hatten zu viele Rückschläge einstecken müssen, als dass sich ein derartig leuchtender Erfolg ignorieren ließe. Der Virus hatte noch eine zweite eingebaute Funktion. Im Lauf der Zeit fraß er Schlüsselbereiche des Speichers im Computer weg, so dass nach und nach kein Tahn mehr wissen würde, wo in Koldyeze oben und unten war – außer dass alles sehr gut aussah, wenn man nur nicht zu genau hinschaute.
Die erwartete erste Welle von Vergeltungsmaßnahmen kam in dem Moment, als die Tahn entdeckten, dass einige Kriegsgefangene fehlten. Sie riegelten das Lager mit eiserner Hand ab. Es gab Befragungen, Lagerinsassen wurden geschlagen, und es gab einige Tote. Doch die Tahn kamen nicht hinter das Geheimnis der Katakomben und des Tunnels, der nach draußen unter den Hügel rührte. Plötzlich hörten die Befragungen so rasch auf, wie sie begonnen hatten.
Gerade noch rechtzeitig. Virunga stand kurz davor, die veralteten Waffen zu verteilen, die er und Sten in einem Verlies in dem Katakomben gefunden hatten. Eine derartige Aktion war selbstverständlich selbstmörderisch; aber immerhin wenigstens kurzfristig befriedigend.
Virungas Schnüffler
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