Feindgebiet
wurde, war Wichman angewidert. Pastour war ein Verräter. Er hatte vor, die Gefangenen als Geiseln zu benutzen, um sich selbst eine Zukunft als Speichellecker des Imperiums zu sichern.
Aber was konnte er, Wichman, dagegen unternehmen? Lady Atago, die letzte Heldenfigur der Tahn, war gefallen. In diesem Moment bildete sich Wichman ein, Lady Atago forderte ihn zum Handeln auf. Und für ihn war es so, als würde der Mantel der Heldin ihm zufallen. Wichman würde ihr Schwert aufnehmen. Und er schwor, dass bei seinem eigenen Tod kein einziger Gefangener in Koldyeze mehr am Leben sein würde.
Senior Captain (Nachrichtendienst) Lo Prek zog den Kopf ein, als er ein zerstörtes Wohnhaus betrat, das auf der Zufahrtsstraße unterhalb von Koldyeze lag. Er hatte das Sturmgewehr geschultert, an seinem Gürtel hing die eiserne Ration. Er rüttelte mit der kläglichen Kraft, die ihm zur Verfügung stand, an einer Tür, die nur noch in ihren Scharnieren hing und den Treppenaufgang blockierte, der zum zweiten Stock führte. Die Tür gab schließlich mit einem schrillen Quietschen nach, bei dem Lo Preks Herz fast stehen geblieben wäre.
Lo Prek wartete einen Augenblick und atmete tief durch, bis sein Herzschlag sich wieder normalisiert und er seine Furcht niedergekämpft hatte. Dann stiefelte er die Treppe hinauf. Im obersten Stockwerk fand er ein riesiges Loch in der Wand, wo vorher ein Fenster gewesen war. Von hier konnte er den Eingang von Koldyeze gut überblicken, ebenso die schmale Kopfsteinpflasterstraße, die sich zur alten Kathedrale hinaufschlängelte.
Lo Prek räumte Schutt beiseite und machte sich auf eine lange Wartezeit gefasst.
Diese Aussicht machte ihm gar nichts aus. Es war seine Geduld, die es ihm ermöglicht hatte, den Mörder seines Bruder viele Jahre lang Millionen Meilen weit zu verfolgen, und jetzt war er sicher, dass er bald am Ziel war. Lo Prek hatte Wichmans Schlussfolgerungen noch um einen Faktor erweitert. Sollte es einen Entscheidungskampf um Koldyeze geben, würde auch Sten sicherlich eine zentrale Rolle dabei spielen.
Lo Prek wartete ab. Er lud seine Waffe und stellte die Zielvorrichtung ein letztes Mal ein.
Kapitel 55
Dass Koldyeze nicht schon lange dem Erdboden gleichgemacht worden war, sondern Hunderte prominenter Gefangener sowie einfache Kriegsgefangene in seinen Mauern überlebten, lag vielleicht daran, dass Lieutenant Colonel Virunga ein weitaus talentierterer Musiker war, als er Sten gestanden hatte.
Als der junge Virunga sich für Blasinstrumente zu interessieren begann, und zwar in einem solchen Maße, dass sich seine Eltern widerwillig dazu entschlossen, die astronomischen Kosten für den Import – von der Erde! – eines archaischen Instruments mit dem Namen Saxophon auszugeben, wurde er Teil einer Rebellion. Die N’ranya-Musik dieser Epoche war rigide in die Strukturen einer 39-Ton-Musik gezwängt. Jede Komposition bestand aus zwei Teilen. Der erste Teil begann mit einer genau festgelegten Anzahl von Noten, die dann in mehreren Variationen wiederholt wurden, wobei jede Variante in einer anderen Tonart endete. Der zweite Teil veränderte diese Tonarten wiederum und endete schließlich in der Tonart, mit der das Musikstück begonnen hatte.
Die N’ranya waren stets begeistert von ihren Bäumen herab gestiegen, hatten sich auf großen Lichtungen versammelt und andächtig dieser Musik gelauscht. Virungas Generation fand die traditionelle Musik schrecklich langweilig; einige von ihnen fingen an, neue Musik zu schreiben, Stücke, bei denen nicht nur eine bestimmte Note niemals wiederholt wurde, sondern jedem Musiker freigestellt war, endlose Variationen auszuführen soviel er wollte. Sie nannten es Y’zz und versammelten sich heimlich auf kleinen Lichtungen, um die verbotene Musik zu spielen.
Virunga, der Improvisationen liebte, machte es nichts aus, dass Stens Freiheitssonate für Solisten ziemlich daneben ging.
Der erste Satz begann in den Kellern unterhalb von Koldyeze. Kriegserfahrene Gefangene packten die versiegelten Waffen in den Katakomben aus und übten ihre Bedienung mit denen, die psychisch und physisch noch dazu in der Lage waren.
Widerwillig ließ Virunga zu, dass Kraulshavn und Sorensen Azimutkarten erstellten, sowie Entfernungsskizzen für die Artillerie, die bald eingesetzt werden würde. Er selbst verbrachte viele Stunden mit Derzhin und Avrenti, um mit ihnen darüber zu diskutieren, was letztendlich passieren könnte und was wirklich passieren musste.
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