Feindgebiet
Wachen genau anschaute.
Sie sahen ganz so aus, wie er es nach den Erfahrungen im vorherigen Lager erwartet hatte: Raufbolde mit zuviel Muskeln, halbverkrüppelte Kriegsveteranen und Soldaten, die zu jung oder zu alt waren, um an die Front geschickt zu werden.
Auch die Beleidigungen und Drohungen, die sie ausstießen, unterschieden sich in nichts von denen ihrer Vorgänger.
Doch keiner von ihnen trug eine Peitsche. Sie waren mit Schlagstöcken oder Betäubungsknüppeln bewaffnet, was den zuvor zum Teil schwer misshandelten Gefangenen eher wie offen demonstrierte Freundschaft vorkam. Keiner der Aufseher fuchtelte mit einer Projektilwaffe herum, kein Gefangener war mit dem Gewehrkolben niedergeschlagen worden, was normalerweise die Prozedur war, mit der sich die Tahn Aufmerksamkeit verschafften.
Der Oberschreihals trug die Rangabzeichen eines Polizeimajors, ein massiger Mann, dessen breiter Ledergürtel den Kampf gegen seinen Bauch bereits aufgegeben hatte. Während er seine Anweisungen brüllte, kroch seine Hand immer wieder zum Pistolenholster, von wo er sie mit einiger Anstrengung wieder zurückzog. Das Gesicht des Mannes war unglaublich zernarbt.
»Das muss der Blödmann sein«, flüsterte Alex, »der im Zweikampf mit dem Bären zweiter Sieger geworden ist.«
Als die Formation schließlich einigermaßen korrekt stand, humpelte Colonel Virunga an seinen Platz vor seinen Leuten.
Einer der wenigen Lichtblicke auf der langwierigen Reise an Bord des Gefangenenschiffs war die Tatsache gewesen, dass Virunga der ranghöchste Imperiale Offizier und damit als Lagerältester verantwortlich für die Gefangenen des neuen Lagers war.
Virunga ließ den Blick über sein Kommando schweifen und wollte sie Habachtstellung einnehmen lassen. Dann zögerte er irritiert.
Ein einzelnes trotziges Wesen stand demonstrativ außerhalb der Formation der Gefangenen. Er – oder sie? oder es? – war ungefähr anderthalb Meter groß und hockte auf dicken Hinterbeinen, als hätte es in grauer Vorzeit der Entwicklung seiner Rasse einmal einen Schwanz gegeben, der bei dieser Haltung als dritte Stütze gedient hatte. Seine Vorderbeine waren beinahe so groß wie die hinteren und endeten in enormen, knochig aussehenden Arbeitshandschuhen mit unpassenden Fingern.
Das Wesen hatte keinen Hals, seine Schultern gingen direkt in einen spitz zulaufenden Schädel mit einem Dutzend rosafarbener Fühler über, die, wie Virunga richtig vermutete, seine Sinnesorgane waren. Das Wesen war einmal recht fett und mit glänzendem Fell bewachsen gewesen. Jetzt hing sein ungepflegter Pelz wie eine faltige Toga um seinen Körper.
An Bord des Schiffes war Colonel Virunga der Einblick in die Akten der Gefangenen nicht erlaubt gewesen, und natürlich hatte er auch nicht genügend Zeit gefunden, sich mit jedem einzelnen der verschleppten Gefangenen bekannt zu machen. Trotzdem wunderte er sich, dass er diesen dort übersehen hatte.
»Truppe – Habt acht!«
»Ich gehöre nicht zur Truppe, und ich werde hier nicht strammstehen«, quiekte das Wesen. »Ich bin Laienprediger Cristata, ich bin Zivilist, ich gehöre weder zum Imperium noch zu den Tahn, und ich werde hier zu Unrecht festgehalten und gezwungen, ein Teil dieser Todesmaschinerie zu sein.«
Virunga wollte seinen Augen und Ohren nicht trauen. Glaubte Cristata denn, einer von ihnen hätte sich freiwillig als Kriegsgefangener gemeldet? Weitaus verwunderlicher war jedoch die Tatsache, dass dieser Inbegriff des Widerstands überhaupt so lange in einem Gefangenenlager überlebt hatte.
Der Polizeimajor trompetete unzusammenhängendes Zeug, und zwei Aufseher sprangen mit gezückten Schlagstöcken auf Cristata los. Doch bevor sie ihn zu Boden schlagen konnten, schnappte ein großer Mann, der in den Resten einer Infanteristenuniform steckte, Cristata am Gürtel und zerrte ihn in die Reihe zurück. Offensichtlich waren Cristatas Einwände durch die Anwendung von Gewalt befriedigt worden, denn er blieb demütig dort stehen, wo er hingepflanzt worden war.
»Truppe … Achtung!«
Virunga machte kehrt, stützte sich auf seinen Stock und blickte zu dem Balkon im dritten Stock hinauf. Dort sah er, dass zwei Gesichter hinter vergitterten Fenstern auf ihn herabstarrten.
Er wartete, dass sich die neuen Herren der Gefangenen zeigten.
Kapitel 10
Police Colonel Derzhin war seinem Selbstverständnis nach trotz seines Ranges weder Polizist noch Militäroffizier. Vor vielen Jahren, lange vor Ausbruch des Krieges mit dem
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