Felicity Gallant und Das Auge des Sturms (German Edition)
sichtbar wurde, der fleischlose Totenschädel, die grausig skelettartigen Glieder – es roch sogar nach Verwesung.
Miranda, das Baby im Arm, trat vorsichtig näher. »Sie sollten sich ein bisschen ausruhen«, sagte sie in schmeichelndem Ton. »Falls diese Nervensäge da noch weiter Ärger macht, werden Ihre Leute schon mit ihr fertig, meinen Sie nicht?«
Die Alte warf Miranda einen zornig funkelnden Blick zu, doch dann fasste sie sich wieder. »Abednego«, rief sie. Der Kapitän blickte auf. »Lassen Sie die Segel setzen«, befahl sie und schritt übers Deck zu ihrer Kabine. »Melden Sie mir unverzüglich, falls die da versuchen, an Bord zu kommen.«
»Soll sie doch ihren Willen haben«, murmelte sie und warf noch einen letzten Blick zurück aufs Wasser. »Dann wird eben alles in einem Aufwasch erledigt.«
Einundzwanzigstes Kapitel
H
enry, Jeb und Martha segelten zu Felicity. Henry streckte ihr die Hand hin, um ihr ins Boot zu helfen.
»Es ist das Auge dieser Galionsfigur«, rief sie. »Es macht, dass der Wind sich legt!«
»Spinnst du?«, schimpfte Henry. »Steht aufrecht auf einem kieloben treibenden Boot! Du willst wohl noch mal reinfallen?«
Aber Felicity achtete nicht darauf, sie war viel zu aufgeregt. Sie sprang hinüber – das Boot schwankte gefährlich.
»Hey, nicht so wild«, sagte Jeb.
»Habt ihr das gesehen?« Felicity war nicht zu bremsen, es sprudelte nur so aus ihr heraus. »Habt ihr das gesehen? Das war gar nicht schlecht, oder? Ich hab einfach versucht, mich zu erinnern, und es hat geklappt!«
Henry hatte endgültig genug. »O ja, wir haben es gesehen«, sagte er grimmig. »Du wolltest durch einen Wirbelsturm segeln – der reine Irrsinn!«
Felicity stutzte, dann traf sie die Erkenntnis wie ein Schlag: Sie war nur knapp mit dem Leben davongekommen. Henry umarmte sie, sie drückte ihn ganz fest. »Danke, dass ihr gekommen seid.« Sie schniefte.
Henry ließ sie los. »Ist doch klar.«
»Trotzdem … na ja …«, sagte Felicity und schaute zögernd in die Runde. »Ich muss unbedingt auf die Sturmwolke . Ich weiß, dass es gefährlich ist, aber es muss sein.«
Jeb versuchte nicht, es ihr auszureden. Er blickte hinüber zu dem Schiff. »Die Herrin ist nicht zu sehen.« Er runzelte die Stirn. Seeleute kletterten die Wanten hinauf. Ganz oben am Mast entfaltete sich ein Segel. Es knisterte und knackte, als der Wind die Leinwand blähte. Überall in der Takelage machten sich Männer auf den Rahen zu schaffen.
»Sie setzen Segel«, sagte Jeb.
»Sie hat meine Schwester«, rief Felicity entsetzt. Immer mehr Segel wurden heruntergelassen, die Mannschaft hatte alle Hände voll zu tun.
»Die sind jetzt so beschäftigt, dass sie uns gar nicht beachten«, sagte Henry. Er wandte sich an Jeb. »Klar zur Wende«, kommandierte er. »Ich denke, wir können es schaffen.«
Jeb legte das Ruder um und nahm Kurs auf die Sturmwolke .
»Du kümmerst dich um das Focksegel, Felicity«, sagte Henry. »Martha und ich werden uns rauslegen: Wir brauchen jetzt so viel Geschwindigkeit wie möglich.«
Martha nickte nur stumm. Sie wusste nicht, wovor sie mehr Angst haben sollte: vor all dem Wasser um sie herum oder vor der grausamen Frau dort auf der Sturmwolke .
Die Jolle wurde schneller. Felicity war ganz schlecht vor Ungeduld und Sorge: Die Sturmwolke wirkte wie eine uneinnehmbare Festung. Sie hörte ein Kommando übers Deck des Schiffs schallen.
»Sie holen den Anker auf!«, rief Jeb.
Das Segelboot raste nur so übers Wasser, Gischt spritzte über die Bordwand. Felicity fror entsetzlich in ihren nassen Kleidern, sie spürte die Kälte bis in die Knochen, aber das spielte jetzt keine Rolle, wichtig war nur, dass sie die Sturmwolke erreichten, bevor das Schiff davonfuhr und ihre kleine Schwester mitnahm. Die Ankerkette rasselte, der große Buganker tauchte aus dem Wasser auf.
»Wir schaffen es nicht«, stöhnte sie verängstigt.
Aber sie waren sehr schnell. Je näher sie kamen, desto finsterer und bedrohlicher wirkte der mächtige Schiffsrumpf, der vor ihnen aufragte. Eine Jakobsleiter hing an der Bordwand herunter; sie schaukelte mit jeder Bewegung der Sturmwolke . Jeb hielt darauf zu.
Dann hatten sie das Schiff erreicht. Niemand schien ihr Boot, das wie eine winzige Nussschale wirkte, zu bemerken.
»Deine Großmutter ist wahrscheinlich in ihrer Kabine.« Henry schrie, um das Klatschen der Wellen zu übertönen. »Mit ein bisschen Glück können wir uns da einschleichen und deine kleine Schwester
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