Felicity Gallant und Das Auge des Sturms (German Edition)
Ding, das der Fremde ihr gegeben hatte. Es war eine Holzkugel, offenbar sehr alt. Die Oberfläche war schimmernd glatt, wie poliert vom häufigen Anfassen. Sie schien aus zwei Hälften zusammengesetzt zu sein, ähnlich wie eine Walnuss: Wenn man genau hinschaute, sah man eine Fuge. Felicity schüttelte die Kugel. Etwas klapperte. Sie steckte sie in ihre Jackentasche.
Sie wandte sich dem Buch zu. Die Entstehung von Geschichten: Eine Abhandlung von Messrs R. Hodge, Heyworth & Helerly. Auf dem roten Ledereinband war eine goldene Weltkugel eingeprägt. Felicity schlug das Buch auf und las das Vorwort.
Alle Dinge wurden durch das Wort des Herrn des Himmels, stand dort. Er schuf alles und nichts hatte Leben ohne ihn. Aber als er unsere Welt erschaffen hatte, war sie wild und ungezähmt. Und die Seinen litten sehr unter der Gewalt der Elemente.
Also sprach der Herr des Himmels: »Ich will jedem Element eine Hüterin geben, die es im Zaum hält und meine Geschöpfe beschützt.« Und er las eine Geschichte von ihrer Entstehung vor, von vier Schwestern, deren Pflicht es war, die Elemente im Zaum zu halten. Das war ein freudiges Ereignis. Die Worte, die er sprach, fielen vom Himmel, und die Orte, wo sie landeten, wurden heilig mit besonderen Kräften: Wenn dort jemand eine Geschichte vorlas, wurde sie wahr.
Orte, wo Geschichten Wirklichkeit wurden? Felicity dachte an die vielen, vielen Geschichten, die sie in ihrem jungen Leben schon gelesen hatte, und war hingerissen. Sie blätterte das Buch durch. Es schien eine Art Textsammlung zu sein. Wieso hatte der fremde Mann es sich geschnappt und war damit fortgerannt? Und wieso hatte es ihn zu Tränen gerührt?
Es war windig und Wolken trieben über den Himmel. Felicity fiel eine große auf, die sich ziemlich schnell bewegte: Sie sah aus wie eine alte Frau.
Vor Hunderten von Jahren dachten die Menschen, dass solche Erscheinungen künftige Ereignisse ankündigen würden: »Vorzeichen« nannte man so etwas. Heute, wo es für alles eine wissenschaftliche Erklärung gibt, glauben wir nicht mehr daran. Und meistens haben wir recht damit.
Aber die Sturmwolke, von der der Mann gesprochen hatte, sollte wirklich kommen und Felicitys Leben für immer verändern. Obwohl sie – wie eine Schmetterlingspuppe, die in ihrem Kokon schlummert – noch nichts davon wusste.
In dieser Nacht, als der Rest der Familie längst schon schlief, war Felicity noch wach und verschlang das rot gebundene Buch von der ersten bis zur letzten Seite.
Anfangs wollte sie es eigentlich nur durchsehen, vielleicht steckte irgendwas zwischen den Seiten, ein Zettel oder Blatt mit Notizen oder Anmerkungen drauf, irgendetwas, das erklärte, warum der Mann sich für das Buch interessierte oder warum er es ihr gegeben hatte.
Das Werk befasste sich mit einer der vier Schwestern, von denen im Vorwort die Rede war, mit der Hüterin der Winde. Die Autoren hatten scheinbar die ganze Welt bereist und überall nach Spuren dieser Frau gesucht, und wenn sie etwas fanden, in Volkssagen, in einer alten Handschrift oder in bildlichen Darstellungen an Gebäuden, dann hatten sie es in der Sammlung vermerkt.
Die Stunden vergingen und das Buch – oder besser, die Gestalt, von der das Buch erzählte – fesselte Felicity immer mehr. Es war eine Frau, deren Fähigkeit, Schrecken zu erregen, sie nur noch faszinierender machte. Felicity konnte voll und ganz verstehen, warum die Autoren von ihr beeindruckt waren.
Sie war die schönste der vier Schwestern, las Felicity in einem der ersten Kapitel , als ob der Herr des Himmels noch einmal alle seine Kunst aufgeboten hätte, sein Schöpfungswerk zu krönen. Ihr Liebreiz konnte selbst den nächtlichen Mond entzücken. Männer waren zu morden bereit für ein Lächeln von ihr, Frauen kämpften darum, im Licht ihrer Aufmerksamkeit zu stehen. Sie konnte Steine zum Lächeln bringen, wenn sie wollte, und Berge zu Tränen betrüben.
(Aus einer frühen Fassung von Erzählungen aus Zeiten der Weisheit , überliefert in einer skandinavischen Pergamenthandschrift)
Erst als es hell wurde, merkte Felicity, dass sie das ganze Buch gelesen hatte. Und sie wusste immer noch keine Antwort auf ihre Fragen.
Am nächsten Morgen saß Felicity in der Küche und strich Butter auf ihren Toast. Sie rieb sich immer wieder die Augen und unterdrückte ein Gähnen. Was war bloß in sie gefahren, dass sie eine ganze Nacht damit verbracht hatte, dieses Buch zu lesen: Die Entstehung von Geschichten: Eine Abhandlung
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