Felicity Gallant und Das Auge des Sturms (German Edition)
bloß weil du ein Mädchen bist«, zischte er und hob drohend die Hand. Dann drehte er den Kopf und schrie übers Deck: »Hey, Leute, kommt mal alle her, wir haben Besuch!«
Nach kurzer Zeit hatte sich eine ganze Horde von Seeleuten um die beiden Kinder versammelt; sie kamen von allen Seiten angerannt oder kletterten aus den Masten. Einer, der es ganz besonders eilig hatte, sprang über die Reling des Quarterdecks.
Felicity und Henry sahen schweigend in die Runde. Diese wettergegerbten, grimmigen Gesichter boten einen ziemlich furchterregenden Anblick. Henry bemühte sich mit aller Kraft, nicht an die zahlreichen Schauergeschichten zu denken, die von der Besatzung der Sturmwolke erzählten.
»Wirklich rührend«, sagte einer. »Kommt hierher und will ihr Schwesterchen retten.«
»Weißt du, was wir mit ungebetenen Gästen machen?« Ein Matrose strich mit einem Finger über Felicitys Wange. Sie zuckte zurück.
»Sollen wir sie gleich umbringen oder warten wir auf die Herrin?«, fragte der Mann mit dem bunten Halstuch.
»Wir könnten das Mädchen jetzt abmurksen und uns den Kleinen da für später aufheben«, schlug einer vor. »Einen von den Twogoods mal so richtig in die Mangel nehmen« – er machte eine Bewegung, als schwinge er eine Peitsche –, »damit die endlich runtersteigen von ihrem hohen Ross, das hab ich mir schon immer gewünscht.«
Henry starrte den Kerl an. »Tun Sie, was Sie nicht lassen können«, murmelte er trotzig und bekam prompt die Antwort in Gestalt eines Fausthiebs. Es war ein scheußliches Geräusch, als die Fingerknöchel des Seemanns auftrafen – Felicity wurde ganz schlecht davon, aber Henry ließ sich kein Zeichen von Angst entlocken.
»O ja, darauf kannst du dich verlassen«, versicherte der Mann. Felicity spürte, wie Panik in ihr hochkam. Was hatte sie sich dabei gedacht? Sie waren direkt in die Höhle des Löwen marschiert. Und sie würde das mit dem Leben bezahlen und Henry auch. Es war alles ihre Schuld.
Der Wind blies in die Segel. Das Schiff wurde nur noch von seinem kleineren Anker gehalten, es trieb um ihn herum und riss an der Kette. Aber alle Arbeit an Deck kam zum Stillstand, je mehr Seeleute sich um die beiden Gefangenen versammelten.
Ein Schatten fiel über Felicity, sie blickte auf und sah Abednego. Ihr Herz raste. Auf welcher Seite stand er? Vielleicht nur auf seiner eigenen. Er schritt vorwärts, seine Männer machten ihm Platz.
In seinem prächtigen Uniformrock und einer dunkelbraunen Hose stand er da und blickte hinab auf die beiden Kinder. Eine Weile verging. »Segel setzen, habe ich befohlen«, sagte er zu seiner Mannschaft.
»Das sind blinde Passagiere, Käpt’n«, sagte ein Matrose verunsichert.
»Lasst das nur meine Sorge sein.« Unzufriedenes Murmeln war zu vernehmen, aber ein Blick des Kapitäns ließ die Leute verstummen. »Hat jemand was dagegen einzuwenden?«
Keiner wagte es. In Felicity keimte Hoffnung auf. Sie hielt den Atem an.
Plötzlich wurde die Tür der Kabine aufgerissen. »Was ist hier los?«, kreischte eine erboste Stimme. Die Leute zuckten zusammen. Offenbar hatte die Herrin bemerkt, dass irgendetwas im Gange war – wie eine Spinne, die die kleinste Erschütterung ihres Netzes sofort spürt. Ihre Laune hatte sich nicht gebessert. »Habe ich nicht ausdrücklich gesagt, dass ich verständigt werden will?«, bellte sie.
Die Mannschaft stob auseinander, alle hatten es eilig, wieder an die Arbeit zu gehen.
Miranda hastete hinter ihrer Gönnerin her. »Soll ich Ihnen vielleicht das Baby abnehmen?«, fragte sie diensteifrig. Ihr war klar, dass sie gut daran tat, gerade jetzt einen guten Eindruck auf die Herrin zu machen. »Es muss Sie doch sehr ermüden.«
Die Herrin war nicht in der Stimmung, mit Miranda Süßholz zu raspeln, aber das schreiende Balg ging ihr auf die Nerven. Sie überließ das Bündel Miranda, die es mit ausgestreckten Armen hielt wie etwas, dem man besser nicht zu nahe kommt.
Die alte Dame trat zu Abednego. Ein Blick genügte, und sie wusste, was gespielt wurde.
»Natürlich, du warst es, wer sonst!«, schrie sie. » Du hast dieser Göre das Auge gegeben.« Sie war außer sich. »Nach allem, was ich für dich getan habe«, flüsterte sie hasserfüllt.
Abednego nahm all seinen Mut zusammen und blickte ihr in die Augen. Er hatte sich auf diesen Moment vorbereitet, seit er in dem Buch seine eigene Geschichte gefunden hatte. Nichts, was sie ihm antun konnte, würde schlimmer oder schrecklicher sein als das, was
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