Felidae 06 - Schandtat-neu-ok-22.02.12
Schatten daraufgelegt. Je mehr sie sich uns
näherte, desto deutlicher erkannten wir das ganze Ausmaß der Katastrophe. Ihr
linkes Auge war ausgeschlagen worden und ausgelaufen, die Peripherie stark
angeschwollen. Das Blut aus der arg in Mitleidenschaft gezogenen Augenhöhle
hatte die eine Gesichtshälfte völlig bedeckt und war zu einer schwarzen
Riesenkruste geronnen. Schmerzhaft winselnd brach Mama vor unseren Pfoten
zusammen. Später erzählte sie uns, einer der Fleischereiarbeiter hätte sich
überraschenderweise doch zur frühen Stunde in der Kältekammer aufgehalten und
habe mit einem Haken nach ihr geworfen, als er sie entdeckte. Sie war am Auge
getroffen worden und mit knapper Not geflohen. Dann war sie über Stunden
orientierungslos und der Ohnmacht nahe durch die Gegend geirrt.
Es brach mir das Herz. Wie ich die liebe Mutter so leiden
sah und unter heißen Tränen zur Linderung ihrer Schmerzen die Wunde leckte,
wurde mir zum ersten Mal in meinem Leben bewußt, zu welch unvorstellbarer
Grausamkeit der Mensch fähig war. Soweit dieses plumpe, zweibeinige Wesen davor
überhaupt je in mein Sichtfeld geraten war, hatte es sich mir als ein
gewöhnliches Glied der Natur, als selbstverständlicher Teil der lebendigen Welt
präsentiert. Nun aber schien der Mensch für mich davon ausgeschlossen. Er war
zu einem Fremdkörper geworden, verachtenswert und furchteinflößend. Kurzum, ich
hatte meine Unschuld verloren.
Es wurde alles nur noch schlimmer. Dabei wurde das Wetter
immer besser. Die Jahreszeit hielt sich an ihr Programm, und abgesehen von ein
paar kurzen Schauern steigerten sich Wärme und Sonnenschein. Zwischen uns, den
Kindern und Mama hatten sich die Rollen mit einem Male verkehrt. Die
beschädigte Augenhöhle hatte sich stark entzündet und die Entzündung auf die
gesamte Gesichtshälfte übergegriffen. Das listige, fürsorgliche, starke Weib
von einst verkümmerte von Tag zu Tag zu einem sich immer schlechter bewegenden
und von Höllenschmerzen geplagten Häufchen Elend. Abgesehen davon, hätte sie
ohnehin selbst bei bester Gesundheit als Einäugige für die Jagd und die
Diebestouren nicht mehr getaugt. Wir Jungen versuchten uns von heute auf morgen
als Selbstversorger. Doch da Mamas Jagdunterricht abrupt unterbrochen worden war,
schleppten wir lediglich ein vom Baum gefallenes, krankes Vögelchen oder
vergammelte Insekten nach Hause. Sie, die Löwin, die noch vor kurzem so hart
für ihre Jungen gekämpft hatte, versorgten wir natürlich als erste. Aber sie
hatte wegen ihres schrecklichen Zustandes kaum Appetit, zudem auch immer
weniger Lebenslust.
In dieser eh schon desolaten Situation zwischen
chronischem Hungergefühl und Perspektivlosigkeit machten Gerüchte die Runde,
welche die Frühlingssonne für uns noch mehr verdüsterten. Die Population der
»Herrenlosen« sei dieses Jahr besonders üppig ausgefallen, hieß es von
vorbeistreunenden Zeitgenossen, die nur selten einen mitleidigen Blick auf
unsere arme Mama und unsere sich durch das Fell schon abzeichnenden Rippen
warfen. Und wie zur Bestätigung dieser These gab es ganz schön viele
Überbringer dieser Hiobsbotschaft. Diese erzählten auch, daß die in der Gegend
lebenden Menschen gedachten, diese »nutzlosen Tiere« in Eigeninitiative zu
»dezimieren«. Natürlich verstanden meine Geschwister und ich nur Bahnhof.
Dennoch spürten wir instinktiv, daß die bedrohliche Lage, in der wir uns
befanden, um einige Zacken bedrohlicher wurde. Wir sollten recht behalten.
Es war an einem sonnigen Morgen, als ich meine Mutter
sterben sah. Ich hatte nur ein paar Sekunden zuvor meine Augen geöffnet, um ihr
ins zerstörte Antlitz zu blicken. Die drei Mädchen, mein Bruder und ich hatten
uns während der Nacht außerhalb des Schuppens an sie gekuschelt, weil wir wohl
trotz der mißlichen Umstände so lange es noch ging den Familienzusammenhalt im
wörtlichen Sinne spüren wollten. Sie sah immer noch wunderschön aus. Aber der
verwüstete Augenbereich verlieh ihr etwas von einer zerknüllten Fotografie mit
dem Motiv einer Schönen.
In Anbetracht des Dramas wollte ich mich gleich wieder in
den Schlaf weinen, als ein ohrenbetäubender Knall die Luft zerriß. Bevor die
Schreckreaktion einsetzen konnte, sah ich, wie Mama zirka zwanzig Zentimeter
vom Boden abhob und dann wie ein hingeschmissener Sandsack wieder vor mir
aufschlug. Mit einem riesigen blutenden Loch im Bauch und starr offenen Augen.
Meine Geschwister und ich sprangen fauchend auf und blickten uns
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