Felidae 4 - Das Duell
hüpfend, erreichte ich endlich unser Domizil und kletterte die Feuerleiter herunter. Mein Ziel war jedoch nicht die Terrasse, ich hatte eine bessere Idee. Nach all den leidgeprüften Jahren an der Seite eines mittellosen Akademikers kannte ich mich nämlich nicht nur in dem maroden Gebäude wie in meiner Westentasche aus, sondern auch in den Gewohnheiten seiner schrulligen Bewohner.
Archibald Philip Purpur oder kurz Archie, wie wir ihn im Zungenschlag der Achtziger lockerflockig nennen, haust in einer Einzimmerwohnung ein Stockwerk über uns. Ich glaube, ich erwähnte schon, daß es sich bei dieser Person in Wahrheit um ein Alien handelt, das sich ähnlich wie im Film Men in Black eine notdürftig menschliche Gestalt verleiht, indem es auch den letzten schwachsinnigsten Trend absorbiert. Oder kennen Sie vielleicht jemanden, der zu jedem G-7-Gipfel düst, um gegen die Globalisierung zu demonstrieren, um anschließend an einer Schaumweinprobe in einem Ch â teau in der Champagne teilzunehmen? Ich meine, man kann entweder die Wagner-Festspiele in Bayreuth besuchen oder bei einem Konzert von Motörhead die Bühne vollkotzen. Wenn man aber wie Archie aus reiner Berechnung heraus beides tut und dabei auch noch die adäquate Garderobe und das Benehmen für das jeweilige Event verwechselt, dann sollte man sich langsam mit dem Gedanken anfreunden, daß bald dein Psychiater dein bester Kumpel ist.
Das einzig Positive an dem Kerl ist der Umstand, daß er Kette raucht. Ich sage das nicht, weil sich die Halbwertzeit dieses Ärgernisses in Menschengestalt dadurch enorm verkürzt und mir seinen Anblick in naher Zukunft erspart zu bleiben verspricht, nein, zu einem solchen Zynismus wäre nicht einmal ich fähig. Was mir nun recht gelegen kam, ist vielmehr Archies Angewohnheit, seine Balkontür neben der Feuertreppe zu jeder Jahreszeit bei Tag und Nacht einen Spalt offenzulassen, da er sonst in den Rauchschwaden ersticken würde. Weil zudem seine Wohnungstür seit, sagen wir einmal, Kennedys Ermordung kein Schloß mehr besitzt, benutze ich den Ort hin und wieder als Schleuse zum Treppenhaus. Von dort aus. schnell die morsche Holztreppe heruntergesaust und dann beherzt durch die speziell für mich angefertigte Klappe in der Tür gehechtet, und schon bin ich in meinen eigenen vier Wänden!
Auf das größte anzunehmende Chaos in Archies Heim gefaßt, glitt ich von der Feuertreppe auf den Balkon, auf dem der Schnee gnädigerweise über die bereits im Sommer eingegangenen Topfpflanzen seinen Mantel gelegt hatte. Schon hier drang jenes herzergreifende unverkennbare Schluchzen an meine Ohren, welches allein der Verlust eines geliebten Mitgeschöpfs zu bewirken vermag. Ich hatte Archie schon im Kokainrausch seine Wände anbellen hören, die ganze Nacht in einem fort wie irre lachen oder geschlagene zehn Stunden ohne Unterbrechung furzen, weil er sich in seiner mexikanischen Periode ausschließlich von Bohnen und Zwiebeln ernährte. Aber weinen?
Ich steckte meinen Kopf neugierig durch den Spalt der Balkontür und wurde gleich zweifach überrascht. Überraschung Nummer eins: in der Wohnung von Chaos keine Spur! Das Gerümpel von umherfliegenden CDs, nie gelesenen Büchern und nie durchgeblätterten Bildbänden, mal viel zu engen, mal viel zu weiten modischen Kleidungsstücken, die sich gewöhnlich schon nach einem halben Jahr überlebt hatten, ja sogar die geschmacklosen Seventies-Möbel: alles weg, einfach verschwunden! Statt dessen präsentierte sich das Quartier in einer zenhaften Leere. Und Überraschung n ù mero due : Archie steckte diesmal nicht in einer Zwangsjacke oder einer ähnlichen Kluft, die up to date war, sondern er trug tatsächlich eine Anzughose und ein sauberes, gebügeltes weißes Hemd. In diesem schönen Hemd weinte er sich die Augen aus dem Kopf, und wie er das tat! Er saß an einem schlichten Schreibtisch, auf dem mehrere Fernsehmonitore standen, betrachtete einen davon und plärrte angesichts dessen, was er dort sah, wie ein seines Schnullers verlustig gegangener Säugling, schaute zum nächsten, was einen noch brachialeren Weinkrampf zur Folge hatte, und erreichte seinen Heulhöhepunkt beim Anblick des dritten Bildschirms.
Ich schlich lautlos an dem gramgebeugten Mann vorbei zur Wohnungstür, konnte es mir jedoch nicht verkneifen, einen Blick auf den Auslöser dieser Tränenflut zu werfen. Und zu meinem Erstaunen zeigten die Monitore keineswegs irgendwelche schrecklichen Impressionen von einem Flugzeugunglück
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