Ferne Tochter
sprechen?«
»Gern.«
»Frau Wolf, hier ist Ihre Tochter«, höre ich Tanja Schmidt sagen.
Mutter summt.
»Was für eine schöne Nachricht! Es tut dir sicher gut, nicht mehr zu liegen, oder?«
Sie räuspert sich. Einen Moment lang ertappe ich mich bei der Phantasie, sie könne gleich mit mir reden.
»Ich stehe auf meinem Gerüst und reinige die Taube auf dem Fresko.«
Wieder ein Summen.
»Bald bin ich mit allem fertig. Dann mache ich Fotos, und die bringe ich mit, wenn ich dich das nächste Mal besuche. Dann kann ich dir all die Einzelheiten zeigen.«
Ein Singsang.
Wieso habe ich nicht eher an Fotos gedacht?
Abends fahre ich mit der Straßenbahn nach Trastevere und besichtige die erste Wohnung. Anderthalb Zimmer im Erdgeschoss. Der Geruch im Treppenhaus erinnert mich an meine Behausung in der Via Perugia.
Meinen nächsten Termin habe ich im Westen der Stadt, eine Einzimmerwohnung im zweiten Stock, nicht weit von der Via Aurelia Antica entfernt. Im Internet wurde nicht erwähnt, dass das Haus an einer Hauptstraße liegt. Die Fenster sind einfachverglast. Hier könnte ich keine Nacht schlafen.
Am Mittwoch sehe ich mir eine winzige Dachgeschosswohnung in der Nähe der Villa Doria Pamphili an. Sie ist ruhig und hell, aber die schrägen Decken sind nicht isoliert. Im Winter wird es hier eiskalt sein und im Sommer unerträglich heiß.
Ich bin auf dem Nachhauseweg, als Vincenzo sich meldet und wissen will, wann ich mir die neue Skulptur anschaue.
»Vielleicht Freitagabend?«
»Du klingst niedergeschlagen.«
Ich erzähle ihm von meiner Wohnungssuche.
»Um Himmels willen! So weit wird es ja wohl nicht kommen.«
»Ich bin entschlossen umzuziehen.«
»Aber nicht in solche Absteigen. Das ist völlig ausgeschlossen. Ich werde mir etwas überlegen.«
Beinahe antworte ich, dass ich nicht mehr von den Velottis abhängig sein möchte, auch nicht von Vincenzo Velotti. Doch ich will ihn nicht kränken.
Am Freitag simst mir eine Maklerin, dass sie die perfekte Wohnung für mich gefunden hätte. Ein gut isoliertes Dachstudio in Trastevere.
Ich bin nicht die einzige Interessentin. Die Wohnung ist winzig, aber sie hat einen Balkon mit Blick auf die Tiberinsel.
»Meinst du, hier gibt es Mücken?«, fragt eine junge Frau ihre Mutter.
Daran habe ich nicht gedacht. Ich weiß, dass es welche gibt, und verabschiede mich.
Ich bin wählerisch, denke ich auf dem Weg zu Vincenzo. Dabei kann ich mir das gar nicht leisten. Ich habe immer angenommen, ich könnte jederzeit wieder mit wenig auskommen, so sparsam wie ich bin. Lehne ich all diese Wohnungen ab, weil ich insgeheim hoffe, dass Francesco sich doch noch besinnt?
Als Erstes sehe ich die Flügel. Die kleine Skulptur steht auf einem Messingsockel in Form eines offenen Würfels. Ein Engel mit einem V-förmigen Kopf und einem Loch statt einer Brust. Bronze, dunkelbraun patiniert.
»Salvador Dalí?«, frage ich.
Vincenzo nickt.
»Der Surrealistische Engel.«
»Ich kenne Abbildungen davon. Er ist wunderschön.«
»Dalí hat einmal gesagt, dass ihn nichts so sehr stimuliert wie die Idee des Engels.«
»Das kann ich gut nachvollziehen.«
Am Saum des Gewands lese ich Dalís Signatur, und die Zahlen 1105 / 1500 . Eine limitierte Auflage, aber immerhin eintausendfünfhundert Surrealistische Engel.
»Er betrachtete sie als kosmische Intelligenzen und meinte, jeder Mensch trage einen Engel in sich, der nach einer langen Entwicklung, durch zahlreiche Verwandlungen hindurch, in Erscheinung treten könne.«
Ich denke an Tessa.
»Ich finde, das ist eine schöne Vorstellung … voller Zuversicht. Wer so denkt, hat noch Hoffnung.«
Mit oder ohne Engel fühle ich mich heute Abend alles andere als zuversichtlich.
Vincenzo sieht es mir an und versucht, mich aufzumuntern. »Du solltest auf keinen Fall umziehen. Wenn ihr es nicht mehr zusammen aushaltet, muss sich mein egoistischer Sohn eine andere Unterkunft suchen.«
»Das wird er nicht tun.«
»Warten wir’s ab.«
[home]
40.
E inen Tag später sitze ich im Wohnzimmer vor dem Fernseher und schaue Nachrichten.
Es klingelt. Ich erwarte niemanden.
Die Tür des Gästezimmers wird aufgeschlossen, ich höre Francescos Schritte. Er ruft in die Sprechanlage, wer da sei, flucht, dass unten wieder jemand die Haustür offen gelassen habe.
Es klingelt erneut. Er öffnet die Wohnungstür.
»Guten Abend«, höre ich eine Frauenstimme sagen.
Ich springe auf und laufe in den Flur. »Tessa!«
Da steht sie, ohne die Miene
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