Rywig 04 - Die Glücksleiter hat viele Sprossen
Glücklich im Elternhaus
Nina barua
Der Herbstregen klatschte gegen das Fenster. Die Baumwipfel wurden vom Sturm unbarmherzig gerüttelt, und die letzten braungelben Blätter wirbelten durch die Luft und fielen naß und welk zu Boden.
Diese Tatsachen nahm ich sozusagen im Unterbewußtsein zur Kenntnis. Ich saß an meinem Schreibtisch am Fenster, die Hände unter dem Kinn, starrte hinaus in den trostlosen Herbsttag und murmelte leise vor mich hin:
„Nina - una - ana - tuna - mna - wana. Sina - huna - hana -hatuna - hamna - hawana — “
„Was murmelst du über Havanna?“
Ich drehte mich um. Ich war von meinen Suaheli-Hilfsverben völlig in Anspruch genommen. So hatte ich gar nicht gehört, daß jemand ins Zimmer gekommen war.
„Ach, du bist es, Hans Jörgen! Ich habe kein Wort über Havanna gesagt, ich sagte ,hawana’, und das bedeutet: ,Sie haben nicht’.“ „Was du nicht sagst! Und wie heißt ,du hast’?“
„Una!“
„Gut. Also, tafadhali, una barua!“
Er legte einen Brief auf meine Suaheligrammatik.
„O Hans Jörgen, tausend Dank - ich meine, ahsante sana! Übrigens, wo hast du das Wort ,barua’ gelernt?“
„Mensch, du läßt ja immer deinen Sprachführer in der Gegend rumliegen.“
„Ach so. Da hast du auch ,tafadhali’ gelernt?“
„Erraten. Wie kann man bloß darauf kommen, das Wort tafadhali zu schaffen? ,Bitte’ und ,please’ sind doch viel vernünftiger.“
„Frage nicht mich. Wäre ich gefragt worden, wäre Suaheli viel einfacher geworden. Aber verschwinde jetzt, ich muß meinen Brief lesen!“
„Ach nee! Welche Überraschung! Ich dachte, du würdest ihn irgendwann nächste Woche aufmachen, wenn du zufällig Zeit hast!“ „Brüder sind das Schrecklichste, was ein Mädchen haben kann!“ stellte ich fest.
„Ihr Schwestern müßt euch für das Glück anderer Mädchen opfern“, erklärte Hans Jörgen. „Aus den Brüdern werden einmal Freunde und Ehemänner und Väter.“
„Und Haustyrannen“, sagte ich. „Hans Jörgen, bitte verschwinde, ich will meinen Brief in Ruhe lesen!“
„Hast du noch etwas von der Nußschokolade?“
„Alter Erpresser! Hier, dies ist der Rest, und dann dampfst du ab, kapiert?“
„Ich glaube schon. Deine zarte Andeutung soll wohl heißen, daß dir das Alleinsein wünschenswert erscheint?“
Hans Jörgen grinste breit und verschwand, den Mund voll Schokolade.
Ich lächelte. Ich verstehe mich besonders gut mit Hans Jörgen. Er ist wirklich ein prima Kerl.
Dann konnte ich endlich meinen Brief aufmachen.
Mein Heiko hat eine sonderbare Fähigkeit. Nämlich die, ein Maximum an Liebe mit einem Minimum an Worten auszudrücken. Ich wußte, daß er nie die Zeit für lange Briefe aufbringen konnte. Der Ärmste, er saß bis zum Hals in seinem Staatsexamen. Er schrieb mir zweimal in der Woche, immer ganz kurz, aber voller Liebe. Und wie er selbst gesagt hatte: „Vergiß nicht, mein Mädchen, es kommt auf die Qualität an, nicht auf die Quantität.“
Über die Qualität konnte ich mich wirklich nicht beklagen! Heikos ganze Liebe und Zärtlichkeit, seine Sehnsucht und seine Zukunftshoffnungen strömten mir entgegen aus dem kleinen, schnell geschriebenen Brief.
Ich blieb sitzen mit dem Blick auf sein Bild, das vor mir auf dem Schreibtisch stand. Es war eine Vergrößerung einer Aufnahme, die Senta in Serengeti gemacht hatte. Wie glücklich sah er dort aus! Braungebrannt, mit strubbeligen Haaren, mit einem strahlenden Lächeln - fröhlich, gelöst, einen kleinen Schalk im Auge.
Wie würde er wohl jetzt aussehen? Die afrikanische Bräune hatte er bestimmt verloren, vielleicht auch etwas von der Fröhlichkeit. Damals hatte er seinen „Ferienausdruck“ gehabt. Jetzt arbeitete er, arbeitete achtzehn Stunden am Tag, arbeitete für sein Ziel, das auch meins war. Er arbeitete für uns, für unsere Zukunft, für unser Glück.
Vor einem halben Jahr hatten wir uns kennengelernt. Damals hatten meine Zwillingsschwester Senta und ich in der deutschen Fernsehlotterie eine Ostafrikareise gewonnen. Im April sind wir losgefahren, und auf dieser Reise lernte ich Heiko kennen. Heiko, der genauso afrikabesessen ist wie ich. Heiko, der mir diese schon an sich märchenhaft schöne Reise noch märchenhafter gemacht hatte. Heiko, mit dem ich mich an einem frühen Morgen in Serengeti verlobt habe. Heiko, dem ich versprochen habe, durch dick und dünn mit ihm zu gehen, mit ihm nach Afrika, wenn der Tag käme, wo er seine Pläne verwirklichen konnte: Mit
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