Ferne Tochter
In der Dunkelheit kann ich zuerst kaum etwas erkennen. Ich setze meinen Rucksack auf und versuche, mich zu orientieren. In der Ferne leuchten die Lichter der Stadt. Ich laufe los. Nach einer Weile sehe ich auf der linken Seite lauter gleich große Bäume, eine Obstplantage. Ich steige über den Zaun, rieche die Äpfel, suche mir einen Platz unter einem Baum. Ich rolle meinen Schlafsack aus, lege den Rucksack unter meinen Kopf und schlafe sofort ein. Ich träume von Johannes. Er holt mich mit einem Lkw von der Schule ab. Wir fahren nach Italien, ruft er und gibt Gas. Du hast doch gar keinen Führerschein, sage ich. Macht nichts, ruft er, dafür bin ich schon Vater. Das glaube ich nicht, sage ich, dann müsste ich ja Mutter sein. Bist du auch, ruft er. Und wo ist das Kind?, frage ich. Beim Notar. Kriegt es da genug zu essen? Na klar!, ruft Johannes. Ein Notar hat viel Geld. Im Außenspiegel sehe ich, wie Frau Hildebrandt hinter uns herläuft und ihre Arme schwenkt. Pass auf, sage ich, Frau Hildebrandt holt bestimmt die Polizei. Ist mir egal, ruft Johannes und küsst mich. Eine Zunge fährt mir durchs Gesicht. Ich schrecke hoch. Vor mir steht ein Schäferhund. Und neben ihm ein alter Mann mit einem Stock. Hier ist kein Campingplatz, sagt er und streicht sich über seinen Schnurrbart. Entschuldigung, murmele ich und krieche aus meinem Schlafsack. Heute Nacht war es so spät, da habe ich es nicht mehr bis zur Jugendherberge geschafft. Der Hund schnüffelt an meinen Füßen. Ich schaue auf die Uhr. Schon halb elf, ich bin noch so müde. Wo kommen Sie her?, fragt der Mann. Aus … Norddeutschland, antworte ich. Fast hätte ich Hamburg gesagt. Dann sind die Schulferien bald zu Ende. Die Schule habe ich hinter mir … Ich will in den Süden. Der alte Mann schmunzelt und schwenkt seinen Stock. Brauchen Sie einen Job? Wieso?, frage ich. In drei Wochen fängt hier die Apfelernte an. Danke, sage ich und packe meine Sachen zusammen. Ich werde es mir überlegen. Der Schäferhund folgt mir, bis ich den Zaun erreicht habe. Eigentlich schade, denke ich, die Äpfel duften gut. Aber ich kann nicht drei Wochen warten. Und wenn mich das nächste Mal jemand fragt, wo ich herkomme, antworte ich auf Englisch.
Im Vorratsschrank finde ich eine halbe Packung Spaghetti und ein Glas Tomatensauce.
Ich esse vor dem Fernseher, sehe einen Film über gefährdete Raubvögel, einen Polit-Talk, die Nachrichten, einen Krimi.
Um halb zwölf kommt Francesco nach Hause.
Ich stehe auf, gehe in den Flur.
»Du warst in New York, hat mir dein Vater erzählt.«
Er steuert wortlos auf das Gästezimmer zu.
Ich stelle mich ihm in den Weg. »Wir müssen miteinander reden. So geht es nicht weiter.«
Er schiebt mich beiseite.
»Es bringt doch nichts, wenn wir uns nur anschweigen.«
Er will die Tür aufschließen. Ich greife nach seiner Hand.
»Lass mich los!«
Ich weiche zurück. Seit fast vier Wochen habe ich diese eisige Stimme nicht gehört.
»Bist du überhaupt daran interessiert, eine Lösung zu finden?«
»Ich will meine Ruhe haben.«
»Und ich will wissen, was in dir vorgeht. Du kannst nicht von mir erwarten, dass ich still zusehe, wie unsere Ehe zerbricht.«
»Ich habe dir gesagt, was ich zu sagen hatte. Wenn es sein muss, wiederhole ich es noch mal: Für mich ist dieser Vertrauensbruch schlimmer, als wenn du eine Affäre gehabt hättest.«
»Apropos Affäre: Könnte es sein, dass du dich längst anderweitig vergnügst und deshalb kein Interesse an einer Aussprache hast?«
Francesco öffnet die Tür.
»Selina hat dich am Freitag auf einer Vernissage gesehen …«
Er verschwindet im Gästezimmer, schließt hinter sich ab.
Ich trommele mit den Fäusten gegen die Tür.
[home]
38.
I ch ziehe mich um, steige auf mein Gerüst, spüre wieder meine Wut auf Francesco. Ich werde mich nicht länger von ihm lähmen lassen. Heute Abend fange ich an, nach einer Wohnung zu suchen.
Ich betrachte das Fresko. Wochenlang habe ich mich auf winzige Ausschnitte konzentriert, jetzt wandern meine Blicke vom Engel zu Maria und weiter zu den beiden Figuren, die ich im Frühjahr und Sommer restauriert habe: dem heiligen Thomas von Aquino und dem knienden Kardinal Oliviero Carafa, der als Stifter den Bau der Kapelle in Auftrag gab. Das im Hintergrund dargestellte bräunliche Tonnengewölbe, mit seinen Ornamenten und dem Wappen der Familie Carafa, ist gut erhalten, es muss nur noch gereinigt werden. Ebenso wie die Taube, das Symbol des Heiligen Geistes. Sie
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