Ferne Tochter
aufschreiben?«
Nein, das will sie nicht, sie wiederholt nur ihre hektische Bewegung.
Auf einmal begreife ich, worum es ihr geht. Sie will wissen, ob ich nach Hamburg zurückkehre. Der altbekannte Ärger packt mich. Mutter denkt immer nur an sich.
Ich stehe auf, gehe zum Fenster, sehe den weißbärtigen Mann mit einer jungen Frau aus dem Haus kommen. Sie reicht ihm den Arm, führt ihn zu einem Wagen, öffnet ihm die Tür. Sie lachen.
Hinter mir wimmert es.
Ich drehe mich um.
Mutter streckt die Hand nach mir aus. Ich gehe zu ihr, hocke mich neben sie.
Sie ist schwerkrank, vielleicht lebt sie nicht mehr lange. Natürlich wünscht sie sich, dass ich in ihrer Nähe bin.
»Es tut mir leid … Aber ich kann nicht nach Hamburg zurückkommen … In Rom habe ich meine Arbeit, meine Freunde. Dort ist mein Zuhause. Egal, was mit meinem Mann und mir passiert.«
Sie schließt ihr eines Auge.
»Bitte versteh mich … Ich werde dich weiter regelmäßig besuchen …«
Sie will mich nicht ansehen.
Ich schaue auf die Uhr. Mein Flug geht in knapp zwei Stunden.
Und wenn sich ihr Zustand in den nächsten Tagen oder Wochen verschlechtert? Wenn ich sie nicht mehr lebend wiedersehe?
»Ich muss jetzt zum Flughafen …« Ich beuge mich über sie und gebe ihr einen Kuss auf die Stirn.
Sie öffnet das Auge, versucht zu lächeln.
»Bis bald, Mutter.«
[home]
37.
D ie Maschine ist nur halb voll. Ich habe eine Sitzreihe für mich allein. Hamburg verschwindet unter mir in einer Wolke.
Ob Tessa meinen Brief liest? Vielleicht wirft sie ihn sofort in den Müll oder zerreißt ihn in kleine Stücke oder verbrennt ihn irgendwo am Straßenrand. Ich sehe sie genau vor mir, wie sie sich eine Zigarette dreht, sie anzündet, einen tiefen Zug nimmt und dann das Streichholz an eine Ecke des Briefes hält. Er fängt Feuer, sie lässt ihn fallen, in ein paar Sekunden ist er verkohlt. Was hat Judith Velotti dir geschrieben?, wird Harald Jansen sie am nächsten Sonntag nach dem Frühstück fragen. Tessa wird nur mit den Achseln zucken und murmeln, interessiert mich nicht.
Der Zug von Fiumicino zur Stazione di San Pietro bleibt ein paarmal stecken. Normalerweise würde ich Francesco jetzt anrufen und ihm Bescheid geben, dass ich später komme. Nein, heute ist Sonntag, Francesco hätte mich vom Flughafen abgeholt, mit seinem frisch gewaschenen BMW , so wie Anfang September, nach meinem ersten Besuch bei Mutter. Ich denke an sein gelbes Polohemd, die orangefarbenen Dahlien, das vitello tonnato. Was ist mit dir? Seine Frage, nachdem wir miteinander geschlafen hatten. Hätte sich alles anders entwickelt, wenn ich an jenem Regennachmittag nicht geschwiegen, sondern Francesco von meiner Tochter erzählt hätte?
Ich steige aus dem Zug. Es ist noch warm, viel wärmer als in Hamburg.
Stimmt es, was ich zu Mutter gesagt habe? Wäre Rom auch ohne Francesco mein Zuhause? Wenn er sich von mir trennen will, werde ich diesen Stadtteil verlassen. Ich könnte es nicht ertragen, ihm auf der Straße zu begegnen, seinen Wagen an mir vorbeifahren zu sehen, in derselben Gegend zu wohnen, in der ich siebzehn Jahre lang glücklich mit ihm war.
Heute treffe ich niemanden im Treppenhaus. Die Familien sitzen bei ihren ausgiebigen Mittagessen oder unternehmen Ausflüge nach Ostia Antica, zu den Castelli Romani oder ans Meer. Francesco und ich würden an einem solchen Tag zum Schwimmen fahren, ein letztes Mal, bevor es zu kühl wird.
Ich schließe die Wohnungstür auf. »Hallo?«
Keine Antwort.
Das Gästezimmer ist verschlossen.
Die Rosen im Wohnzimmer lassen die Köpfe hängen, in der Küche steht meine benutzte Kaffeetasse von Freitagmorgen, im Kühlschrank finde ich die Reste meines Einkaufs von Montag. Einen angebrochenen Joghurt, ein paar Scheiben Salami und ein Stück Ziegenkäse. Das Brot ist verschimmelt.
Francesco hat seit seiner Rückkehr aus New York nicht eingekauft. Entweder isst er ausschließlich in Cafés und Restaurants oder er wohnt woanders.
Ich schenke mir ein Glas Wasser ein und gehe auf die Terrasse. Dunst liegt über der Stadt. Irgendwo bellt ein Hund, es gibt kaum Verkehr, Vögel singen. In der Wohnung unter mir weint Isabellas kleiner Bruder.
Danke fürs Mitnehmen, sage ich und öffne die Tür. Der Lkw - Fahrer nickt mir zu. Wir haben drei Stunden lang kaum geredet, nur einmal kurz gehalten und getankt. Ich wäre gern mit ihm weitergefahren, aber seine Tour endet in diesem Vorort von Bozen. Es ist halb vier und ganz still.
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