Ferne Tochter
schwebt über dem Engel, hat etwas Transparentes, passt sich farblich dem Hintergrund an. Erst bei näherem Hinsehen entdeckt man den goldenen Strahl, der von ihrem Schnabel ausgeht und auf das Ohr Marias zielt. Sie soll hören, was der Engel ihr zu verkünden hat. Vielleicht gelingt es mir, den Strahl zum Leuchten zu bringen.
In der Mittagspause begrüßt Signor Meloni mich mit einem Lächeln. »Wie schön, dass Sie wieder da sind.«
»Ich musste für ein paar Tage nach Hamburg. Meine Mutter ist krank.«
»Oh!« Er legt die Hände aufeinander, als wolle er beten. »Und wenn man dann im Ausland lebt … Keine einfache Situation … Sie wären sicher gern länger geblieben …«
Wäre ich das?
»Meine Mutter wird zum Glück gut versorgt.«
»Haben Sie noch Geschwister?«
»Nein.«
Signor Meloni sieht mich traurig an. »Wenn ich an meine Mutter denke … Gott hab sie selig … Wir haben uns zuletzt reihum um sie gekümmert, aber wir sind auch zu acht.«
Ich nicke ihm zu, will nicht weiter über Mütter reden.
»Möchten Sie einen Kaffee?«
»Gern.«
Ich bin auf dem Nachhauseweg, als Selina anruft und wissen will, wie es mir geht.
Ich fasse den Stand der Dinge zusammen.
»Gut, dass du deiner Tochter endlich geschrieben hast.«
»Das wird sich zeigen.«
»Ich kann mein Angebot nur noch mal wiederholen, dass du bei uns herzlich willkommen bist.«
»Danke, Selina.«
»In unserem Dachzimmer hättest du sogar einigermaßen Ruhe. Ansonsten herrscht bei uns natürlich das pure Chaos, aber das kennst du ja.«
»Es kann sein, dass ich darauf zurückkomme.«
»Vielleicht wäre etwas Ablenkung gar nicht schlecht für dich.«
Im Wohnzimmer breite ich den Stadtplan aus. Wo würde ich hinziehen? Ich brauche gute Bus- und Bahnverbindungen und ein paar Geschäfte in der Nähe, ich möchte Walken können und mich sicher fühlen, wenn ich abends spät nach Hause komme.
Die teuren Stadtviertel im Norden, rund um die Villa Borghese, wo Selina wohnt, klammere ich von vornherein aus. Ebenso den Aventin. Trastevere, unterhalb vom Gianicolo, wäre eine Möglichkeit. Oder ich ziehe weiter westlich, in eine der Nebenstraßen der Via Aurelia Antica. Walken könnte ich in der Villa Doria Pamphili, dem Park, den ich kaum kenne.
Ich stelle eine Liste auf, weiß nicht, was Mietwohnungen in diesen Gegenden kosten. Francesco besitzt die Wohnung, in der wir leben. Kenne ich überhaupt jemanden in Rom, der zur Miete wohnt? Ich glaube nicht.
Zugang zu unseren Konten habe ich noch, aber ich beschließe, von jetzt an nur das Geld auszugeben, das ich selbst verdient habe. Ich überschlage, was ich im Monat brauche und wie viel ich an Miete bezahlen könnte.
Bei meiner Internetrecherche merke ich schnell, dass ich mir höchstens eine Einzimmerwohnung in Trastevere oder den Nebenstraßen der Via Aurelia Antica leisten kann. Ich werde auch weiter außerhalb suchen müssen. Oder im Osten der Stadt.
Ich will Francesco mein Zimmer nicht zeigen. Wir kennen uns seit einem Monat, sagt er, ich möchte sehen, wie du lebst. Hinterher wirst du denken, du hättest es lieber nicht gesehen, murmele ich. Er nimmt mich in die Arme. So schlimm wird es schon nicht sein. Wir fahren nach Prenestino, finden in der Via Perugia keinen Parkplatz. Gibt es hier ein Parkhaus?, fragt er und schaut sich besorgt um. Nicht dass ich wüsste, antworte ich. Wahrscheinlich hat er Angst um seinen BMW . Er entdeckt eine Lücke, wir steigen aus. Das Zimmer liegt im Souterrain, sage ich, um ihn vorzuwarnen. Er zuckt mit den Achseln, vielleicht kennt er keine Souterrains. Wir biegen in die Via Perugia ein, die Häuserwände sind voller Graffiti, der Putz bröckelt, viele Fensterscheiben sind zerbrochen. Francesco schweigt. Ich schließe die Haustür auf, wir gehen die Stufen hinunter. Es riecht feucht. Die Tür zu meinem Zimmer hängt lose in den Angeln. Ich schiebe sie auf, modrige Luft schlägt uns entgegen. Die Wände sind schimmelig, es gibt nur ein kleines Fenster. Francesco bleibt auf der Schwelle stehen. Wie lange lebst du schon hier? Drei Jahre.
[home]
39.
A m Dienstagvormittag vereinbare ich drei Termine für Wohnungsbesichtigungen. Es ist ein Anfang, sehr optimistisch bin ich nicht.
Später bekomme ich einen Anruf von Tanja Schmidt. Hat sich Mutters Zustand weiter verschlechtert?
»Ich wollte Ihnen mitteilen, dass Ihre Mutter wieder im Rollstuhl sitzt.«
»Danke«, sage ich erleichtert.
»Es geht ihr viel besser. Möchten Sie mit ihr
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