Ferne Ufer
fühlte ich nur noch den Druck, tosenden Lärm und unvorstellbare Kälte. Ich spürte weder meine durchnäßten Kleider noch das Seil, mit dem ich an der Taille festgebunden war.
Mit einem fürchterlichen Krachen stieß mein Kopf gegen etwas Hartes, und dann lag ich keuchend auf den Planken der Pinasse, die wie durch ein Wunder noch nicht untergegangen war. Langsam setzte ich mich auf, würgte und rang nach Luft. Das Seil hatte mich gerettet, obwohl ich mir dabei allem Anschein nach eine Rippe gebrochen hatte. Mit letzter Kraft zerrte ich an dem Tau. Dann war Jamie neben mir, legte den Arm um mich und griff mit der freien Hand nach seinem Messer an der Taille.
»Alles in Ordnung?« brüllte er so laut, daß ich ihn über dem Heulen des Sturms gerade noch verstehen konnte.
»Nein«, wollte ich ihm schreiend antworten, doch heraus kam nur ein jämmerliches Winseln. Ich schüttelte den Kopf und zerrte an dem Seil. Jamie durchtrennte das Seil.
Ich holte tief Luft, ohne auf den Schmerz in den Rippen und auf die aufgeschürfte Haut an meiner Taille zu achten. Das Schiff hob und senkte sich willenlos mit den Wassermassen, das Deck tanzte auf und ab wie eine Schiffschaukel. Jamie ließ sich auf die Knie fallen, umschlang mich mit dem Arm und rutschte gemeinsam mit mir über Deck. Der Wind war so heftig, daß er unter meine erst halbtrockenen Röcke fuhr und sie mir ins Gesicht schlug. Ich klammerte mich an Jamie und versuchte, ihm auf unserem Weg über das glitschige Deck zu helfen.
Endlich streckten sich uns hilfreiche Hände entgegen, und die anderen zogen uns in den relativen Schutz des Masts. Innes hatte schon vor einiger Zeit das Ruder fest vertäut, und als ein Blitz aufzuckte, zeichnete es sich mit seinen Speichen vor mir ab wie ein schwarzes Spinnennetz.
Reden war unmöglich - und schien auch überflüssig. Raeburn, Ian, Meldrum und Stern hatten sich am Mast vertäut, und obwohl an Deck die Naturgewalten tobten, mochte niemand nach unten in die Kajüte gehen, wo man hilflos umhergeschleudert würde und keine Vorstellung hätte, was oben geschah.
Ich setzte mich mit gegrätschten Beinen auf die Planken, lehnte mich mit dem Rücken an den Mast und band mir das Tau um die Brust. Auf einer Seite war der Himmel inzwischen von einem bleiernen Grau, auf der anderen noch immer von einem durchscheinenden, tiefen Grün, und nach wie vor zuckten die Blitze ins Wasser. Der Wind heulte so laut, daß wir selbst die Donnerschläge nur
gelegentlich und dann gedämpft wie ferne Kanonenschüsse vernahmen.
Aber plötzlich zuckte zeitgleich mit dem Donner direkt neben dem Schiff ein Blitz ins Wasser, so nahe, daß wir hörten, wie das Wasser unter der Hitze des Flammenspeers aufzischte. Stechender Ozongeruch erfüllte die Luft. Innes wandte sich zu uns um, und einen Moment lang schimmerte seine große, hagere Gestalt vor dem erleuchteten Himmel wie ein schwarzes Skelett.
Den Kopfwirbel an den Nackenwirbel , hörte ich Joe Abernathy leise summen. Und den Nackenwirbel an den Rückenwirbel. Unvermittelt tauchte vor meinem inneren Auge das schreckliche Bild der zerrissenen Gliedmaßen auf, die vor dem Wrack der Bruja am Strand von Hispaniola lagen. Im flackernden Licht der Blitze schienen sie zu zucken und sich zu regen, als wollten sie sich im nächsten Moment wieder zusammenfügen.
Beim darauffolgenden Donnerschlag schrie ich auf, nicht wegen des Lärms, sondern weil vor meinem inneren Auge ein neues Bild entstand. Ein menschlicher Schädel mit leeren Höhlen; Höhlen, deren Augen so grün wie der Himmel bei einem Hurrikan gewesen waren.
Jamie rief mir etwas ins Ohr, aber ich verstand ihn nicht. In sprachlosem Grauen konnte ich nur den Kopf schütteln. Ich zitterte wie Espenlaub.
Kleider und Haare trockneten allmählich im Wind. Wenn der Sturm mir die Strähnen ins Gesicht blies, spürte ich das Prickeln statischer Elektrizität. Plötzlich wurden die Seeleute unruhig, und als ich aufblickte, sah ich über den Spieren und der Takelage das blaue Leuchten des Elmsfeuers.
Ein Ball aus strömendem Licht fiel vom Himmel und hüpfte auf uns zu. Als Jamie dagegen trat, ließ er sich anmutig auf der Reling nieder und rollte auf ihr entlang.
Rasch sah ich nach Jamie, ob ihm nichts geschehen war. Glühend wie Feuer standen ihm die Haare vom Kopf ab. Ein Streifen von pulsierendem Blau umhüllte seine Finger, als er sich die Strähnen aus dem Gesicht strich. Dann griff er nach meiner Hand, und ein elektrischer Schlag fuhr durch unsere
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