Ferne Verwandte
allerdings selten vor, dass es nicht um »Geschäftliches« geht, will sagen, nicht um den Olivenöl produzierenden Familienbetrieb Premiata F.lli Di Lontrone Olii Superfini , gegründet 1859 - wie das Etikett auf den Flaschen ausweist -, dessen Besitz sich die Großmutter mit Onkel Richard teilt. Aber der weilt in Amerika, und das erklärt alles.
Wir Kleinen wohnen diesen Wutausbrüchen mit angehaltenem Atem bei, starren bestürzt auf den jeweiligen Verlierer, der sich vom Tisch erhebt, manchmal den Teller hinknallt, häufiger aber noch die Tränen zurückdrängt oder es gar nicht erst versucht. Es ist grauenhaft und eindrucksvoll zugleich zu beobachten, wie sie, die zum Umpusten aussieht, so harte Knochen wie Onkel Erminio zermalmt, einen schweigsamen, strengen Riesen, der ohne Weiteres ganze Rudel aufmüpfiger Tagelöhner an die Kandare nehmen kann. Und am Ende bin jedes Mal ich es, den sie - erhobenen Hauptes und mit einer Art Lächeln auf den blutleeren Lippen - so ansieht, als wollte sie sagen: Lern was draus! Denn ich bin nicht nur ein Waisenkind, sondern darf mich eines weiteren Vorzugs rühmen: Die überlebenden Di Lontrones haben sich zwar mächtig ins Zeug gelegt, aber trotzdem nur Mädchen in die Welt gesetzt - meine zwanzig Cousinen -, sodass ich der einzige männliche Erbe bin und letztlich für den Fortbestand des Geschlechtes sorgen werde. Für Nonnilde ist der Name der Familie alles, auch wenn ihr dynastisches
Denken ein Rätsel bleibt angesichts der Geringschätzung, die sie den Di Lontrones - und hier spreche ich nicht nur von den Kindern der Di Lontrones! - immer entgegengebracht hat. Warum hat sie zum Beispiel einen Mann wie Großvater Carlo überhaupt geheiratet? Vielleicht hatte sie Angst, als alte Jungfer zu enden, obwohl ich mir absolut nicht vorstellen kann, dass die Großmutter vor irgendetwas Angst hat. Vielleicht war es für eine Frau einfach selbstverständlich, irgendwann einmal zu heiraten, und sie hatte den kritischen Zeitpunkt bereits überschritten. Vielleicht aber war die Sache noch einfacher, und sie fand den Großvater schlichtweg amüsant.
Denn jedes Mal, wenn sie mir von ihrem Mann erzählte, musste sie lachen. Er hatte dem Vino Aglianico tüchtig zugesprochen und war ein glückloser Jäger mit Sitzfleisch gewesen - ganze Tage verbrachte er zigarrerauchend unter einer Eiche und wartete gedankenverloren darauf, dass ihm irgendeine Beute vor die Büchse lief, was praktisch nie geschah. Die einzige Aktivität dieses eleganten Mannes mit den liebenswürdigen Manieren außer jener, die größtmögliche Anzahl von Frauen zu erobern, bestand in der Organisation von Ozeanüberquerungen für die Auswanderer. Seiner Zeit weit voraus, hatte er eine Art Reiseagentur gegründet und kümmerte sich um die Cafoni , die Hinterwäldler vom Dorf, die sich in der großen Hafenstadt zu wenig auskannten, um sich allein einschiffen zu können. Unweigerlich verirrte er sich dann selbst in den Gassen von Neapel, obwohl er zehn Jahre dort gelebt hatte, und steuerte nach »Dienstschluss« sicheren Schrittes auf die cafés chantants und die Bordelle zu, wo er das Zehnfache dessen ausgeben würde, was er verdient hatte, ohne allerdings zu vergessen, bei seiner Heimkehr Geschenke für seine Frau und seine Kinderchen mitzubringen. Kam die Rede jedoch auf den Bruder ihres Mannes, Riccardo - oder Onkel Richard -, dann lachte die Großmutter nicht mehr. Ihrem Schwager brachte sie nichts als Hass entgegen, während sich ihre Feinde - und mit der gelegentlichen Ausnahme ihrer Kinder war dies der Rest der Menschheit - mit einer diffuseren
Variante von Verachtung zufriedengeben mussten. Und doch war es nicht immer so gewesen.
Riccardo ist jünger als Großvater Carlo. Im Gegensatz zu ihm ist er klein und stämmig, hat aber einen großen Kopf, der ihn zu einer imposanten Erscheinung macht. Anders als sein Bruder hat er sein Dorf niemals verlassen, und nachdem er nach dem Tod des Vaters die Leitung übernommen hat, wird der Firma Di Lontrone Olii Superfini sogar das Prädikat »Premiata« zuerkannt. Ferner wird sie ausgezeichnet mit der Goldmedaille des Landwirtschaftsministeriums, mit dem Verdienstdiplom Seiner Majestät des Königs und Kaisers und dem Erhabenen Kreuz Seiner Heiligkeit Pius XI., was man ebenfalls alles auf den Flaschen lesen kann, und sie erreicht neue Gipfel der Rentabilität, die allseits gewürdigt werden. Nicht jedoch von ihm. Er hat Ideen und verfügt über die Intelligenz, diese auch
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