Fessel Mich
Schon gut. Lass mich los.«
Bin ich denn von allen guten Geistern verlassen?
Ich lasse ihn zwar nicht los, aber ich lockere den Griff etwas und rücke wieder von ihm ab. Keine Ahnung, wie lange er schon auf der Straße unterwegs ist, aber eine Dusche hat er auch schon länger nicht mehr von innnen gesehen.
»Mein Rad?«, hake ich nach.
»Weg«, antwortet er genauso kurz angebunden.
Ich rolle genervt mit den Augen. »Wie, weg?« Er zögert eindeutig zu lange, als dass es was Gutes heißen könnte. Ich schüttle ihn kurz. »Was heißt weg?«
Er versucht wieder, sich aus meinem Griff zu winden, aber ich bleibe unnachgiebig. »Das heißt«, raunzt er, als er erkennt, dass ich stärker bin, »dass es momentan unabkömmlich ist. Du kriegst es wieder, wenn... wenn du mich die Nacht bei dir schlafen lässt. Und duschen. Mit einem kleinen Snack. Oder so.«
Entgeistert starre ich ihn an. Das kann ja wohl nicht sein Ernst sein. Ich hole mir doch nicht freiwillig so einen freakigen Flohzirkus ins Haus, ganz egal, ob mein Fahrrad dabei drauf gehen muss.
»Du spinnst. Ich lasse dich höchstens in irgendeiner Zelle schlafen, weil ich jetzt nämlich doch die Polizei rufen werde. Vielleicht lassen die sich ja mit einem gestohlenen Fahrrad erpressen.«
Ich glaube, er wird ein wenig blass, weil seine rote Nase, die roten Wangen und Ohren plötzlich noch ein bisschen stärker glühen. Er kann ja nicht wissen, dass ich nur bluffe. Wenn es geht, vermeide ich den Kontakt mit jedweden Beamten und Ordnungshütern, und das hier scheint mir kein so großer Notfall zu sein, dass ich mit diesem Grundsatz brechen müsste.
»Shit. Okay.« Er leckt sich in einer nervösen Geste über die trockenen Lippen. »Soll ich dir erzählen, warum ich von zu Hause weg bin?«
»Nein. Das ist mir scheißegal. Ich will mein Fahrrad und fertig.« Um ihm ein bisschen Beine zu machen, fische ich mit der freien Hand mein Handy aus der Hosentasche. Die Aussicht, bald von der Polizei gefunden zu werden, scheint ihn in eine sehr redselige Stimmung zu versetzen.
Sein Atem kommt ein bisschen abgehackt und er zappelt schon wieder in meinem Griff herum. »Du kriegst es morgen, versprochen. Aber ruf’ bitte nicht die Bullen.«
Ich lasse das Handy aufklappen und schiele auf die Tasten, als müsste ich irgendwelche Zahlen suchen.
»Warte! Shit! Er schlägt mich, verdammt! Mein Vater schlägt mich!«, platzt es dann aus ihm heraus.
Skeptisch schaue ich von meinem Handy wieder in sein Gesicht.
»Glotz nicht so!«, keift er angriffslustig. »Deswegen bin ich da weg!«
Ich weiß nicht, wieso, aber irgendwie kann ich ihm das nicht ganz abnehmen. Das und seine merkwürdige Sprechweise. Passt irgendwie nicht zu ihm.
»Was sagt deine Mutter dazu?«
Damit bringe ich ihn leicht aus dem Konzept, denn er blinzelt mich verwirrt an. Das hat er sich garantiert gerade nur aus den Fingern gesogen. Und mit dieser Frage hat er jetzt nicht gerechnet.
»Sie... ist... tot«, sagt er so bedächtig, als wäre es entweder gerade gestern geschehen – oder aber als müsste er sich die Worte beim Sprechen erst zurechtlegen.
»Dann bist du ein Fall für das Jugendamt«, stelle ich klar. »Die Polizei kann dir da bestimmt weiterhelfen.«
»Fuck! Hast du Watte in den Ohren? Mein Vater prügelt mich windelweich und was soll das scheiß Jugendamt tun? Mich wahlweise in ein beknacktes Heim stecken, wo die Gott weiß was mit mir anstellen, oder zu Pflegeeltern, wo ich noch am besten vergewaltigt werde?!«
Meine Güte, der hat ja eine blühende Phantasie. Fast ein bisschen zu blühend. Und warum habe ich das Gefühl... andererseits – kann man sich so was ausdenken?
Ich mustere ihn kritisch. »Ich würde sagen, du hast dir zeitweise zu viel Schwachsinn im Fernsehen angeguckt.«
Er knirscht mit den Zähnen. »Du glaubst mir nicht.«
»Warum sollte ich? – Hey.«
Unvermittelt wirft er mir seinen Rucksack vor die Füße und öffnet mit der linken Hand seine Jacke. Dann zieht er etwas ungelenk den linken Arm heraus und hält ihn mir hin, weil ich seinen rechten immer noch festhalte.
Irritiert sehe ich ihm dabei zu, ohne mich zu rühren. Als er fertig ist, frage ich ruhig: »Was soll das werden?«
»Du glaubst mir nicht, also sieh’ nach. Sieh’ nach!«, befiehlt er fast, als ich ihn weiterhin etwas begriffsstutzig anblicke.
Nach wie vor argwöhnisch stecke ich das Handy weg und schnappe mir nun seinen linken Arm, allerdings zuckt er dieses Mal zu meiner Überraschung tatsächlich
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