Fesseln der Sehnsucht
ihrer gesamten Familie dar. Zu Hause setzte Lucy sich ins Wohnzimmer, während ihr Vater nach unten in den Laden ging. Sie konnte keinen klaren Gedanken fassen, starrte blicklos an die Wand und versuchte, sich ein klares Bild von dem, was geschehen war, zu machen. Wie in Trance bereitete sie das Mittagessen, deckte den Tisch und wischte sich abwesend die nicht versiegen wollenden Tränen vom Gesicht.
Lucas’ Schritte kamen ungewöhnlich schwer und langsam die Treppe herauf, als fürchte er sich vor der Begegnung mit seiner Tochter ebenso wie sie.
»Wie lief das Geschäft?«, fragte Lucy mit zitternder Stimme. Die Situation erschien ihr so unwirklich. Wie konnte sie mit ihrem Vater über Alltägliches sprechen, da ihr ganzes Leben aus den Fugen geraten war?
»Mäßig«, antwortete Lucas und setzte sich mit einem schweren Seufzer zu Tisch. Während er aß, warf sie ihm verstohlene Blicke zu, ohne selbst einen Bissen hinunterzubringen. Schließlich legte Lucas die Gabel beiseite und blickte in das tränenverquollene Gesicht seiner Tochter. Tiefe Besorgnis und Ratlosigkeit waren in seinem zerfurchten Gesicht zu lesen. »Ein solches Benehmen hätte ich von jedem anderen Mädchen in der Stadt erwartet, nicht aber von dir. Du hast dich schamlos benommen, noch dazu vor den Augen der ganzen Stadt.«
Lucy nickte hilflos und legte ihre bebende Hand an die Stirn, um seinen Blick nicht länger ertragen zu müssen.
»Ich bin von deinem Benehmen erschüttert, nicht von seinem«, fuhr ihr Vater fort. Seine Stimme klang sehr müde.
»Jeder weiß, was die Südstaatler von unseren Frauen im Norden halten. Natürlich hat er die Gelegenheit ausgenutzt, die du ihm geboten hast. Für einen Konföderierten ist er ein halbwegs anständiger Mann, aber im Grunde ist er genauso gewissenlos wie alle anderen.«
»Wieso sprichst du von ihm?«, verlangte Lucy zu wissen, deren Nerven jeden Augenblick zu zerreißen drohten.
»Ich bin es doch, die in Schwierigkeiten …«
»Lass mich ausreden«, fiel Lucas ihr ins Wort. Sein Gesicht hatte sich noch mehr verhärtet, nur seine Stimme war erstaunlich ruhig. Lucy senkte den Blick auf ihren Teller und schlang die Arme um sich. »Heute Morgen kam Mr. Brooks in den Laden und sagte mir, seine Frau und seine Tochter weigern sich, weiterhin bei mir einzukaufen, wenn du hinter dem Ladentisch stehst, weil du einen schlechten Einfluss auf sie haben könntest. Andere Leute denken genauso, Lucy.«
»Dann arbeite ich eben nicht mehr im Geschäft.«
»Das wird nichts nützen. Die Leute werden nicht mehr bei mir einkaufen, solange du nicht verheiratet bist und dein Ruf wieder hergestellt ist.«
»Sie haben kein Recht, mich zu verurteilen!«
»Mag sein. Sie tun es trotzdem. Mit deinem Benehmen hast du mir und meinem Geschäft ebenso geschadet wie deinem Ruf, Lucy.«
»Und nun hasst du mich«, flüsterte sie tonlos und wünschte, wieder ein kleines Mädchen zu sein, wünschte, ihr Vater würde ihr die Sorgen vertreiben, wie er es früher getan hatte, mit ein paar tröstenden Worten, einem liebevollen Streicheln oder einem Stück Schokolade.
»Ich hasse dich nicht. Ich bin nur tief enttäuscht von dir. Meine größte Sorge aber gilt deiner Zukunft. Selbst wenn Daniel dich immer noch zur Frau nehmen wollte, würde seine Familie strikt dagegen sein. Du weißt, welchen Wert die Colliers auf Sitte und Anstand legen.«
»Es stört mich nicht«, versetzte Lucy dumpf. »Dann werde ich eben eine alte Jungfer, wie Abigail Collier und bleibe bei dir.«
»Lucy.« Er räusperte sich schien nicht die rechten Worte zu finden. »Wenn du bei mir bleibst, schadest du meinem Geschäft. Das kann ich mir nicht leisten.«
»Ist das dein Ernst?« Lucy sprang mit einem Ruck auf und wischte sich zornig die Tränen vom Gesicht. »Habe ich so etwas Schlimmes getan? Ein so schreckliches Verbrechen begangen?« Lucas schwieg, sein Gesicht blieb verschlossen, die Falten auf der Stirn und um den Mund hatten sich tiefer eingegraben. Lucy setzte sich langsam wieder. Ihr war kalt, als sei ihr das Blut in den Adern gefroren. Der schlechte Geschäftsgang war nur ein Vorwand.
Ihr Vater verachtete sie so sehr, dass er sie nicht mehr bei sich haben wollte. Er wollte nichts mit einer Tochter zu tun haben, die Schande über sich und ihn gebracht hatte. Lucy hatte sich nie im Leben so einsam gefühlt. »Du willst also nicht, dass ich bei dir bleibe«, sagte sie langsam. »Und wohin soll ich gehen?«
»Wir könnten versuchen, dich bei der
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