Fesseln der Sehnsucht
Verwandtschaft deiner Mutter in New York unterzubringen. Aber ich bezweifle, dass man dich dort aufnimmt. Deine Mutter hat die Beziehungen zu ihrer Familie abgebrochen, als sie mich heiratete und nicht ihren Vetter. Aber du könntest bei deinem Onkel und deiner Tante in Connecticut unterkommen.«
»Nein«, hauchte Lucy kopfschüttelnd. »Das Haus ist viel zu klein. Sie können es sich nicht leisten … nein, das ist keine Lösung. Ich habe sie gern, aber sie sind so … streng …« Sie schwieg, als ihr Vater sie betrübt ansah.
»Eine strengere Erziehung hätte dir sehr gut getan«, meinte er bitter. »Ich habe dich zu sehr verwöhnt. Das ist mir heute klar. Aber du bist mein einziges Kind und deiner Mutter zuliebe wollte ich dir keinen Wunsch abschlagen.«
»Bitte sprich nicht von ihr«, brachte Lucy mit erstickter Stimme heraus, drehte ihm den Rücken zu und barg das Gesicht in den Händen.
»Es gibt noch eine dritte Möglichkeit«, sagte Lucas und legte eine lange Pause ein, ehe er fortfuhr. »Du könntest Mr. Rayne heiraten.«
Lucy fuhr herum und sah ihn entgeistert an. »Was sagst du da?«
»Er kam vor zwei Stunden in den Laden und hielt um deine Hand an.«
»Du … du willst mich mit einem Konföderierten verheiraten?«
»Er sagte, er habe die nötigen Mittel, um dich zu versorgen. Ich glaube ihm.«
Lucy stockte der Atem. Plötzlich standen all die Verheißungen, all die frohen Erwartungen, das unbeschwerte Leben als Daniel Colliers Ehefrau deutlich vor ihr. Sie wären das schönste Paar in der Stadt gewesen, allseits beliebt und bewundert. Sie hätten es sich leisten können, in Boston Konzerte und Theatervorstellungen zu besuchen, wären zu rauschenden Festen eingeladen worden, angesehen und behebt bei den vornehmen, alteingesessenen Familien von Concord. All das war ihr nun versagt. Und was hatte sie als Ehefrau von Heath Rayne zu erwarten? Jeder würde naserümpfend auf sie herabsehen und sie mit Verachtung strafen. Sally hätte tiefes Mitleid mit ihr und würde die Freundschaft einschlafen lassen. Lucy würde jahrelang bescheiden und zurückgezogen leben müssen, ehe man ihr verzeihen würde, sich an einen Südstaatler weggeworfen zu haben.
»Nein, das tue ich nicht«, entgegnete sie schrill, einer Panik nahe. »Du kannst mich nicht zwingen, ihn zu heiraten …«
»Natürlich zwinge ich dich nicht«, unterbrach Lucas sie bedächtig.
»Dann lehne seinen Antrag ab. Ich werde nie wieder mit ihm sprechen. Sag ihm, ich will ihn nicht heiraten, niemals …«
»Ich sagte ihm, wir warten ein paar Tage, ehe wir ihm unsere Antwort zukommen lassen. Lucy, überlege dir bitte genau, was du tust. Ich glaube nicht, dass du begreifst, wie dein Leben von nun an aussieht.«
Es dauerte keine zwölf Stunden, bis sich die Nachricht von Lucy Caldwells schändlichem Verhalten in der ganzen Stadt herumgesprochen hatte. Beste Freundin hin oder her, Sally hatte offenbar den Mund nicht halten können. Lucy zog es vor, sich im Haus zu verstecken, um den kalten Blicken nicht begegnen zu müssen, wenn sie sich auf die Straße wagte. Schlimmer noch waren die neugierigen Blicke und am schlimmsten das herablassende Mitleid. Nachbarn, die sie von Kindheit an kannte, die immer freundlich und nett zu ihr waren, schienen sie nun nicht mehr zu kennen oder musterten sie verachtungsvoll, als habe sie ein schreckliches Verbrechen begangen. Von Daniel hörte sie kein Wort und Lucy verbrachte schlaflose Nächte mit bangen Fragen, was er von ihr dachte. Es war unmöglich, redete sie sich ein, dass er sie fallen lassen würde, nichts mehr für sie empfand, nachdem. er sie so sehr geliebt hatte. Vielleicht konnte sie ihm begreiflich machen, was niemand wahrhaben wollte, dass sie immer noch unberührt war. Doch war das der eigentliche Skandal? In den folgenden Tagen Wurde ihr allmählich klar, dass die Empörung der Leute sich nicht darauf bezog, ob sie noch unschuldig war oder nicht. Nein, es ging ihnen vielmehr darum, dass sie sich mit einem Südstaatler eingelassen hatte. Die Wunden waren längst noch nicht verheilt. Der Krieg war den Leuten immer noch deutlich in Erinnerung; man würde Lucy nicht verzeihen können. Niemand wagte es laut auszusprechen, doch alle hielten sie für eine Verräterin und behandelten sie entsprechend.
Nach einer Woche hielt Lucas ihr einen langen Vortrag und forderte endlich eine Entscheidung. Lucy verlor die Nerven und floh kopflos, bleich und verwirrt, ohne Hut und Schal in die kühle Nacht
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