Fesseln der Sehnsucht
hat«, meinte krächzte er.
»Wie lange?«
»Etwa zwanzig Jahre. Meine Mutter rubbelte mir mit dem Waschlappen die Haut fast vom Gesicht.«
Lucy hielt inne. »Machen Sie die Augen zu«, befahl sie leise, ehe sie ihm den schmierigen Ruß um die Augen abwischte. »Wieso setzen Sie Ihr Leben für einen von uns aufs Spiel, statt bei sich zu Hause zu sein?«, fragte sie, worauf er ihr Handgelenk festhielt.
»Das reicht.« Sie wusste, dass er damit nicht ihre Bemühungen meinte, ihm das Gesicht zu säubern; sie ließ das Tuch sinken und wehrte sich nicht gegen seinen Griff, bis er sie freiwillig losließ.
»Wieso muss alles an Ihnen so geheimnisvoll sein?«
»Geheimnisvoll?«
»Sie erzählen mir nichts von sich.«
»Was wollen Sie hören?«, fragte er finster.
Schweigen trat ein. Lucy wusste, dass sie sich auf verbotenes Gelände wagte. Sie durfte nichts von ihm wissen; sie durfte ihm keine Fragen stellen; sie durfte nicht einmal neben ihm sitzen. Aber eine solche Gelegenheit würde sich ihr nie wieder bieten.
»Aus welcher Stadt in Virginia stammen Sie? Welchen Beruf hatte Ihr Vater?«
»Ich komme aus Richmond. Mein Vater war Rechtsanwalt. Er musste seine Kanzlei aufgeben und die Familienplantage in Henrico County verwalten.«
»Eine Plantage? Aber Sie sagten einmal, Sie hatten keine Sklaven …«
»Ich nicht.«
»Aber wenn die Raynes Plantagenbesitzer waren wie …«
»Nicht die Raynes«, unterbrach Heath und sah sie ausdruckslos an. »Der Name meines Vaters war Haiden Price.
Ich habe nicht bei den Prices auf der Plantage gelebt. Ich lebte mit meiner Mutter in einem Hotel in Richmond.
Elizabeth Rayne.«
»Ihre Eltern waren … nicht verheiratet?« Lucy spürte, wie ihre Ohren heiß wurden. Wenn er sie nur nicht so scharf fixieren würde, als wolle er ihre Reaktion auf seine Worte ergründen.
»Nein. Sie war eine entfernte Cousine, die mein Vater während eines Besuchs kennen lernte. Er war damals schon verheiratet. Als sie feststellte, dass sie schwanger war, besorgte er ihr eine Wohnung in Richmond. Seine Familie wollte verständlicherweise nichts mit uns zu tun haben.«
Wie war der kleine Junge aufgewachsen, in einem Hotel, geächtet von seinen Verwandten für einen Fehl tritt, an dem er keine Schuld trug? »Hat Ihr Vater Sie besucht?«
»Gelegentlich. Er sorgte dafür, dass ich anständig gekleidet war und eine gute Schule besuchte … Er tat für mich nicht mehr und nicht weniger als für seinen ehelichen Nachwuchs. Mit achtzehn wurde ich ins Ausland geschickt.
Einen Monat nach meiner Abreise sagt South Carolina sich von der Union los und … nun, de Rest ist bekannt.«
»Und nach dem Krieg …?«
»Bin ich Trottel auf die Plantage zurückgegangen in der Annahme, man brauche jede Hand für den Wieder aufbau.
Man brauchte viele Hände. Nur nicht meine.«
Kein Heim. Keine Familie. Lucy war den Träne nahe, wegen ihrer taktlosen Fragen nach einem Zuhause, das er nicht hatte. »Wie … wie ist Ihr Vater gestorben?«, fragte sie. Heath schüttelte schweigend den Kopf und verweigerte ihr die Antwort. Er sah sie mit matter Herausforderung an. »Warum sind Sie in den Norden gekommen?«, fragte sie.
»Das kann ich Ihnen nicht sagen.«
»Warum nicht? Weil Sie es nicht wissen?«
»Weil ich es Ihnen nicht sagen will.«
Lucy lächelte unvermutet. »Deshalb sind Sie so anders.«
Heath schloss die Augen. »Vermutlich haben Sie Recht.«
»Ich bin zu Tode erschrocken, als Sie noch mal in das brennende Haus gingen«, schalt sie vorwurfsvoll. »Warum haben Sie das getan? Was wollten Sie damit beweisen?«
»Ich wollte Emersons Manuskript der Nachwelt erhalten«, antwortete Heath und ahmte Bronson Alcotts hochtrabende Redeweise so verblüffend nach, dass Lucy beinahe gelacht hätte.
»Reden Sie keinen Unsinn.«
»Ich habe keine Angst vor dem Feuer. Aber alle anderen, die es ebenso hätten tun können, hatten Angst davor.«
»Und warum hatten Sie keine Angst?«
»Wem das Schlimmste widerfährt, der hat keinen Grund mehr, Angst zu haben.«
Bei seinen nüchtern gesprochenen Worten schnürte sich ihre Herz zusammen. Lucy konnte nicht widerstehen, ihm das zerzauste Haar aus der Stirn zu streichen. Er reagierte nicht auf die sanfte Berührung. »Das Schlimmste? Was war das Schlimmste in Ihrem Leben?«
»Ich war ein junger Bursche, als in dem Hotel ein Brand ausbrach. Ich kam spät nach Hause, nach einer … wie soll ich sagen … ausschweifenden Nacht. Den Qualm sah ich schon aus weiter Ferne.
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