Fesseln des Schicksals (German Edition)
verlieren.
Mrs. Redwater nickte und machte sich daran, das Kleid aus dem Fenster zu holen.
«Es ist wunderschön», sagte sie. «Beste Wildseide. Wenn Sie bitte in die Anprobe gehen, dann stecke ich den Saum und die Taille ab. In ein paar Tagen ist es fertig.»
«Aber ich brauche es heute Abend!»
«Das ist unmöglich! Heute Abend findet das Fest der O’Flanagans statt. Alle Modistinnen der Stadt sind nur damit beschäftigt.»
Damit hatte Charlotte nicht gerechnet. Verzweifelt warf sie einen Blick auf das Kleid, das Mrs. Redwater noch auf ihren Armen ausgebreitet hielt. Es war wie für sie gemacht.
«Das ist egal. Ich nehme es so mit.»
«Wollen Sie es nicht anprobieren?»
«Dafür habe ich keine Zeit.»
«Ich kann es Ihnen nach Hause schicken lassen.»
«Das wird nicht nötig sein. Danke.»
Noch bevor Mrs. Redwater das Kleid ordentlich zusammenlegen und in einem Karton verstauen konnte, hatte Charlotte ein Bündel Geldscheine auf den Ladentisch gelegt, das Kleid kurz entschlossen zusammengeknüllt und sich unter dem Arm geklemmt.
«O Gott!», rief die Frau entsetzt angesichts eines solchen Sakrilegs. «So zerknittert es doch.»
«Machen Sie sich keine Sorgen», beruhigte Charlotte sie. «Ich werde es einfach bügeln.»
Auf der Straße schrieb Charlotte eine kurze Nachricht auf den Block, den sie immer bei sich trug. Zusammen mit ein paar Münzen übergab sie den Zettel einem Jungen und bat ihn darum, die Nachricht bei Hortensia abzugeben. Danach kehrte sie nach Hause zurück.
Um zwölf Uhr kam Hortensia in die Arch Street. Sie begrüßte Velvet und hängte ihr Cape an der Garderobe auf.
«Ich dachte schon, du würdest gar nicht mehr kommen!»
«Ich habe mich auf den Weg gemacht, sobald ich deine Nachricht erhalten habe. Was ist denn los?»
Charlotte holte das Kleid.
«Was ist das?»
«Mein Kleid.»
«Du willst damit sagen, dass du mir wegen eines Kleides einen solchen Schrecken eingejagt hast? Ich hatte Angst, dir wäre etwas zugestoßen. In der Nachricht steht, es ginge um Leben und Tod!»
«Das stimmt ja auch!», verteidigte Charlotte sich. «Ich muss wirklich gut aussehen. Und es gibt keine einzige Modistin in der Stadt, die mir das Kleid bis heute Abend ändern kann.»
Hortensia griff nach ihrem Cape und machte Anstalten zu gehen.
«Bitte, geh nicht. Ich brauche dich! Du weißt, dass ich mit Nadel und Faden eine Katastrophe bin. Und ich muss heute Abend vollkommen sein.»
«Meinetwegen», gab Hortensia nach und hängte das Cape wieder auf. «Aber diesmal ist es wirklich das letzte Mal.»
Schnell zog Charlotte sich das Kleid über.
«Darf man um Himmels willen erfahren, was mit diesem Kleid passiert ist?»
«Es ist doch nur ein bisschen zerknittert.»
Seufzend bückte Hortensia sich zu dem Nähkästchen, das sie Charlotte vor einem Jahr geschenkt hatte und das noch genau dort stand, wo Hortensia es damals hingestellt hatte.
«Ich musste den Großvater und unsere Onkel im Haus allein lassen, um herzukommen», sagte sie und fing an, die Taille abzustecken.
«Sind sie schon hier?»
«Ja, sie sind früh angekommen. Großvater wird etwas länger bleiben, aber Mutters Brüder kehren schon in ein paar Tagen nach New Orleans zurück.»
«Wie geht es Großvater?»
«Gut. Du müsstest ihn zusammen mit Molly sehen.» Hortensias Gesicht erstrahlte, als sie daran dachte, wie der Großvater seine Enkelin zum ersten Mal gesehen hatte. «Es ist so wundervoll, wie sie miteinander spielen.»
«Ich freue mich schon darauf, ihn zu sehen!»
«Großvater wollte mitkommen und dich gleich begrüßen, aber die Reise war lang, und er war sehr erschöpft. Ich musste darauf bestehen, dass er sich noch etwas ausruht. Heute Abend siehst du sie ja alle.»
Um den Saum abstecken zu können, ließ Hortensia ihre Schwester auf einen Stuhl steigen. Dann überprüfte sie kurz, ob sie auch nichts vergessen hatte. «So, das war’s.» Zufrieden nickte sie, nachdem sie den Sitz einer Nadel korrigiert hatte. «Ich muss nur die Taille etwas enger machen und den Saum anheben. Ich denke, in ein paar Stunden bin ich fertig.»
Hortensia hatte noch nicht ausgeredet, da war Charlotte schon wieder angezogen. Sie setzte sich den Hut auf und knotete das Band fest.
«Wie? Du gehst?»
«Verzeih, Hortensia, aber ich habe noch keine Schuhe. Ich bin sofort zurück. Es macht dir doch nichts aus, oder?»
Eigentlich wollte Hortensia ihrer Schwester sagen, dass es ihr durchaus etwas ausmachte. Dass sie sie nicht zu Tode
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