Fesseln des Schicksals (German Edition)
erschrecken und dann inmitten von Metern von Stoff allein zurücklassen könnte, aber sie hielt sich zurück.
«Es fällt mir zwar schwer, es zuzugeben, aber du wärst mir ohnehin keine große Hilfe.» Hortensia bedeutete ihr mit einer Handbewegung, dass sie ruhig gehen konnte.
«Danke, Schwesterherz», verabschiedete Charlotte sich und gab ihr einen Kuss auf die Wange. «Mach dir keine Sorgen. Ich bin zurück, bevor du fertig bist.» Kurz bevor sie das Haus verließ, drehte sie sich noch einmal um. «Übrigens … Ich bin in Scott verliebt!», rief sie ihr zu und war schon weg.
Daher also die ganze Aufregung. Lächelnd hob Hortensia das Kleid vom Boden auf und fing an zu arbeiten. Zum Glück war das Kleid fast wie für Charlotte gemacht.
Als Hortensia ein paar Stunden später den letzten Nadelstich tat, war Charlotte noch nicht wieder aufgetaucht. Hortensia bügelte das Kleid, und damit ihre aufgeregte Schwester die Arbeit nicht wieder zunichtemachte, ging sie in den ersten Stock und breitete es sorgsam auf dem Bett aus.
Es blieb ihr gerade genug Zeit, um nach Hause zurückzukehren und sich selbst für das Fest umzuziehen.
***
Klaus hätte sein Zimmer schon vor einer halben Stunde verlassen müssen. Aber er war eingenickt. Wenn er sich nicht beeilte, würde er zu spät zum Essen erscheinen. Er zog sich so schnell an, wie es irgend ging, und rannte die Dienstbotentreppe hinunter, damit nicht so auffiel, dass er zu spät war.
Nachdem er die letzten Stufen mit einem Sprung überwunden hatte, hörte er die Stimmen der Gäste im Empfangszimmer. Erleichtert verlangsamte er seinen Schritt. Er hatte es geschafft. Gerade wollte er diskret den Dienstbotenbereich verlassen und sich unter die Gäste mischen, als er plötzlich einen Mann entdeckte, der mit einem Koffer in der Hand durch die Hintertür verschwinden wollte. Er erkannte ihn sofort und blieb stehen.
«Richard?»
Richard zögerte einen Moment, drehte sich dann aber zu seinem Freund um.
«Was tust du?»
«Ich gehe, Klaus. Ich kehre auf die See zurück. Mein Schiff wird mit der nächsten Flut auslaufen.»
«Aber du kannst nicht einfach verschwinden! Scott und seine Eltern erwarten dich …»
«Ich habe Mr. O’Flanagan schon heute Nachmittag meine Entschuldigung überbracht. Und eigentlich wollte ich diese beiden Briefe einem Diener geben, damit er sie euch überreicht, wenn ich weg bin. Aber das ist jetzt wohl nicht mehr nötig. Hier. Nimm du sie. Einer ist für dich, einer für Scott.»
Klaus nahm die Briefe entgegen.
«Und Charlotte?»
Richard senkte den Kopf.
«Was ist los?», fragte Klaus. «Ich habe gedacht, du wärst in sie verliebt.»
«Das werde ich auch immer sein. Aber das Leben hält nicht immer eine zweite Chance für uns bereit, sosehr wir es uns auch wünschen», sagte er müde. «Man kann nicht einfach zur letzten Wegkreuzung zurückkehren und doch den anderen Weg einschlagen.»
«Aber …»
«Meine Zeit hier ist vorbei, Klaus. Ich muss jetzt gehen.»
«Und Scott?»
«Er ist es, den Charlotte liebt. Nicht mich.»
Klaus sah die tiefe Trauer im Gesicht seines Freundes.
«Du gehst, ohne dich von ihm zu verabschieden?»
«Es ist besser so. Er wird es verstehen.»
«Auf Wiedersehen, Richard. Ich werde dich vermissen.»
«Auf Wiedersehen, Klaus. Pass auf dich auf.»
Schweigend umarmten sich die Freunde, dann nahm Richard seinen Koffer und ging.
Während sich das Schiff langsam von der Küste entfernte, spürte Richard, dass die Vergangenheit hinter ihm zurückblieb. Als eine Bö das Großsegel spannte, sah Richard über den Bug nach vorn. Er würde auch diese neue Herausforderung seines Lebens annehmen. Mit geschlossenen Augen verabschiedete er sich endgültig von Charlotte und wünschte ihr von ganzem Herzen, dass das Glück sie auf der Reise begleitete, die sie jetzt gemeinsam mit Scott beginnen würde.
Sein eigener Weg würde von nun an vom Wind bestimmt werden.
***
Sobald Velvet ihr Kleid angezogen hatte, fühlte sie sich unwohl. Charlotte hatte ihr die Haare aufgesteckt und sie gedrängt, eine Perlenkette umzulegen. Noahs Mutter wagte nicht, ihr zu widersprechen, aber die Vorstellung, etwas dermaßen Teures um den Hals zu tragen, machte ihr Angst.
Doch als Velvet sich im Spiegel betrachtete, erkannte sie sich kaum wieder und entdeckte überrascht, dass sie noch eine junge Frau war. Und sie fühlte sich sogar hübsch.
Als die Kutsche zwischen den bunten Laternen hielt, die den Eingang der O’Flanagans schmückten,
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