Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Feuer brennt nicht

Feuer brennt nicht

Titel: Feuer brennt nicht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ralf Rothmann
Vom Netzwerk:
so dicht, dass es weh tut in der Kehle, blickt er angestrengt aus dem Seitenfenster in den Abendhimmel, damit Richard sein nasses Gesicht nicht sieht. Die Tränen tropfen auf das Buch in seinem Schoß.
    Er isst nichts, trinkt nichts, geht ins Bett. Das kann doch nicht sein, ist ein Gedanke, den er wie ein Mantra wiederholt, das ist alles nur ein übler Traum. Und doch fühlt er deutlich, dass diese Situation nicht nur dem Alkohol zuzuschreiben ist, dass ein Keim von Wahrheit und Endgültigkeit darin steckt – der weiterwirkt in seinen Träumen bis zum Morgengrauen und ihm schließlich hochhilft aus den Grübeleien. Das Krähen der Hähne klingt zwar wie rostige Luft, doch ist er zu seiner Überraschung nicht erschlagen, trotz des wenigen Schlafs nicht, und eigentlich auch nicht deprimiert. Vielmehr hat er das Gefühl, jäh erleichtert zu sein und tiefer durchatmen zu können, als wäre irgendetwas Bedrückendes und nicht wirklich zu ihm Gehörendes von ihm abgefallen in der Nacht, eine schmerzende Kruste, ein fremdes Transplantat.
    Aus dem Nebengebäude klingt lautes Schnarchenherüber, und noch misstraut er dieser seltsamen Frische. Aber als nach einer Dusche und einer Tasse schwarzen Kaffees die ersten Strahlen der Sonne durch den Olivenhain im Osten blitzen und seinen Schatten an die Wand projizieren, fühlt er sich deutlich erlöst von dem Umriss, den Richard ihm zugedacht hat und der seiner Utopie von sich kaum mehr ähnelt als ein flüchtig in den Sand skizzierter einem lebendigen Menschen, und er packt seinen Seesack und verlässt den Hof. Das Hemd offen, die Schuhe in der Hand, geht er barfuß zwischen den alten, vom Wind gewrungenen Bäumen den taufeuchten Hang hinunter, und seltsam beschwingt von dieser neuen Freiheit, von der Aussicht auf einen weiteren Weg ohne Beistand, muss er lächeln bei dem Gedanken, dass er jetzt tatsächlich zu sich kommt.
    Zwar sahen sie sich in der Folge noch ab und zu, schrieben die eine oder andere Karte, doch der Zauber war dahin. Die Bewunderung kehrt sich offenbar leicht gegen den, der sie sich nicht rechtzeitig genug verbittet und sie zu lange genießt. Sie überhaupt genießt. Die Klugheit und die frische Hellsicht, mit der Richard sich das Air des Inspirierten gab, entpuppten sich mit wachsendem Abstand und im Licht seiner ihm selbst nicht bewussten Wiederholungen, die zunehmend auch in seinen Büchern vorkamen, als öde, weil jederzeit abrufbare Erfahrung, Geistesblitze aus dem Zettelkasten, und Wolf wurde mehr und mehr abgestoßen von dem ewigen Suff aus angeblich schöpferischer Notwendigkeit, dem schwafelnden Leerlauf mit großer Geste und dem Boheme-Gehabe dessen,der nicht wahrhaben will, dass er älter wird, und innere Freiheit verwechselt mit einer bestimmten Art, sich den Schal über die Schulter zu werfen.
    Und jetzt also der Brief, die zittrige Schrift; das Papier riecht nach der würzigen Bergluft, will ihm scheinen. Und als Wolf nicht reagiert, sogar ein Anruf in seiner Abwesenheit, eine Nachricht auf dem Band. Seltsam scheu die Stimme, aber fast unverändert in ihrem Silberton; erstaunlich für einen mehr als Siebzigjährigen. Doch wieder dieses unmögliche, tantenhaft spitzlippige, aus einer längst versunkenen Zeit heraufklingende Wort: Er möchte Wolf »besuchen«. Allein das sträubt dem die Härchen auf den Fingerrücken, klingt es ihm doch nach einem sentimentalen »Weißt du noch …« am Teetisch. Dann nennt er seine Telefonnummer, wird von einer Frauenstimme im Hintergrund unterbrochen, korrigiert sich und legt auf.
    Wolf ruft nicht an, auch nicht, als Alina ihn darum bittet. Möglicherweise liegt er schief damit, schließlich hat er dem Mann etwas zu verdanken. Und er trägt ihm auch nichts nach. Aber wir lieben unsere Gönner nun mal nicht, nicht in jeder Phase unseres Lebens. Es ist ein Hauch von Hochmut in der Wohltat, der uns das Gefühl gibt, im Recht zu sein mit unserer Undankbarkeit.

4
Vermischte Kulturnachrichten
    Gegen Ende des Winters friert der See noch einmal zu. Das Eis ist dünn, und wenn ein Boot die weite Fläche kreuzt oder ein Schwarm Krähen darauf landet, gerät es ins Schwingen, und die Luft darunter singt am Ufer, über dem Vorjahreslaub und den Kieseln; manchmal nachts, wenn er auf dem kleinen Balkon vor seinem Arbeitszimmer steht, kann er es hören. Die Häuser sind dunkel, die Straßen still, und unter den zarten Schneewehen an den Fenstern der parkenden Autos blinken die Diebstahlsicherungen.
    Das Geräusch eines langen,

Weitere Kostenlose Bücher