Feuer in eisblauen Augen
sie schließlich.
“Ist Bobbie in der schrecklichen Situation, in der es um Leben oder Tod geht?”
“Nein, es geht um Gertrude. Sie ist völlig überarbeitet.”
“Also, Sie selbst sind nicht in Gefahr?” Mark wollte das jetzt ganz genau wissen.
Annie fuhr sich mit der Zungenspitze über die Unterlippe. Das war eine faszinierende Geste, sinnlich und unschuldig zugleich. Lächelnd sah sie ihm in die Augen. “Ich bin okay, wenn Sie mich nicht verhaften. Was wäre denn eigentlich mein Vergehen?”
Marks Ärger war verflogen. Die Frau amüsierte ihn. Vor allem war er erleichtert, dass ihr keine Gefahr drohte. Er antwortete ihr: “Ich könnte Sie wegen Erregung öffentlichen Ärgernisses belangen.”
“Hm, das hört sich ja ziemlich schlimm an. Mit welcher Strafe muss ich rechnen?”
“Gefängnis bei Wasser und Brot.”
Annie prustete wieder los. Mark ging neben ihr durch die kleine Gasse zurück.
“Das Ganze tut mir wirklich leid. Ich habe überhaupt nicht darüber nachgedacht, wie diese Zeilen auf einen Fremden wirken könnten”, sagte sie entschuldigend. Ihre Stimme war jetzt weich und melodisch, ganz anders als vorhin. Mark war sicher, dass sie vorhin eine Schauspielerin imitiert hatte. Das musste aus einem Film gewesen sein, den er nicht kannte.
“Sie waren ein Cop? Bei der berühmten Royal Canadian Mounted Police, den Mounties? Haben Sie auch in dem Männerchor mitgesungen?”
“Ja, Madam.”
“Meine Großmutter war begeistert von dem Chor der berittenen Polizei unseres Landes. Ich bin mit den Liedern aufgewachsen.” Sie blieb abrupt stehen, lehnte sich gegen ihn und sang in hohem, klarem Sopran ein Liebeslied aus längst vergangenen Zeiten. Dabei riss sie die Augen weit auf und klimperte mit den Wimpern wie ein Filmstar aus den Zwanzigern. Mark schaute in ihr herzförmiges Gesicht. Sein Herz begann heftiger zu schlagen. Er hielt die Luft an und vergaß ganz, dass er mitten auf der Straße stand. Erst als ein Fremder sagte: “So ist es richtig, Mädchen, trällere ihm was vor!”, kam Mark wieder zu sich.
Lachend löste Annie sich von ihm. “Als Kind dachte ich, die Mounties seien eine Musikgruppe. Ich meine, so eine Art Vorläufer von Boy Groups.”
“Die Mitglieder unseres Chors sind ganz normale Cops.”
“Ich habe mal einen Fernsehfilm gesehen, der von einem Mountie handelte. Er trug eine umwerfende rote Uniform”, fügte Annie hinzu.
“Das ist unsere Galauniform. Die trägt man nicht im Dienst.”
“Demnach sind die Mounties ganz normale Cops?”, fragte sie enttäuscht. Mark wünschte, er hätte ihr das verschwiegen. Jetzt hatte er ihr eine schöne Illusion zerstört.
“Ja, das ist so. Aber sie sind auch gründlich geschulte Sänger.”
“Hm.” Sie gingen noch schweigend ein paar Schritte nebeneinander her. Dann blieb Annie stehen und reichte ihm die Hand. “Ich muss mich jetzt von Ihnen verabschieden, wer weiß, was sonst noch Schlimmes passiert. Zuerst wollten Sie mir einen Strafzettel verpassen, und dann zerstören Sie mir auch noch meine Illusionen über die Mounties”, sagte sie und lächelte ihn spitzbübisch an. “Da drüben steht mein Wagen.”
Mark hielt ihre schmale Hand in seiner. Er schaute auf ihre langen zarten Finger, die mit Silberringen geschmückt waren, aber ein Ehering befand sich nicht darunter. Ihre Fingernägel waren grün lackiert. Mark hatte gar keine Lust, ihre Hand loszulassen.
Am liebsten hätte er sich mit der attraktiven jungen Frau verabredet. Aber wahrscheinlich würde sie ihn auslachen und denken, er wäre ein wenig verrückt. Dazu kam, dass sein Leben augenblicklich schwierig genug war.
Annie schüttelte seine Hand noch einmal, bevor sie mit schnellen Schritten zum Parkplatz ging, wo ihr Wagen stand. Ihr leichtes Kleid umspielte ihre zarte Figur, und Mark sah ihr ein wenig verwirrt nach.
Er warf einen Blick auf seine Armbanduhr und fluchte leise. Er hatte seinen Freund Brodie ganz vergessen. Zögernd drehte er sich um und wollte den Weg zurückgehen, den er eben erst gekommen war, als eine wohlklingende helle Frauenstimme ihn aufhielt. Er drehte sich um. Die junge Frau stand im hellen Sonnenschein und winkte ihm zu.
“Danke, Fremder, danke, dass Sie mich retten wollten.”
“Ich …” stotterte er. Das ist doch die Gelegenheit, die schöne Fremde einzuladen, dachte Mark. Doch das ging schon wegen Emily nicht. Vor einem Jahr hätte er nicht gezögert und die Chance ergriffen.
Die Frau wartete darauf, dass er weitersprach.
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