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Feueratem

Feueratem

Titel: Feueratem Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tanja Kinkel
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noch hierherzukommen, wenn sie mit dem morgendlichen Ritual an der Reihe war.
    ***
    Immerhin verriet der Drache sie nicht, das musste Teres zugeben. Es wäre ihm ein Leichtes gewesen, ihren Eltern zu erzählen, was ihre Tochter ihm an den Kopf geworfen hatte; dann wüssten die Eltern nicht nur, dass Teres sich heimlich mit einem Jungen getroffen hatte, der einem anderen Clan angehörte, sondern auch, dass sie getan hatte, was in ihren lächerlichen Kräften stand, um den Drachen wenigstens einmal zu verletzen, mit jenem Schlag auf die Nüstern. Teres war sich nicht sicher, welches Vergehen in den Augen ihrer Familie schlimmer wäre, aber bestraft werden würde sie, das war gewiss.Die Unsicherheit, wann es soweit sein würde – und ob überhaupt –, nagte an ihr.
    Vielleicht verriet der Drache nichts, weil sie für ihn völlig bedeutungslos war? Aber in diesem Fall hätte er erst gar nicht mit ihr gesprochen, hätte weiterhin geschwiegen, wie er es all die Jahre getan hatte. Und war es nicht so, dass er zum ersten Mal das Wort an sie gerichtet hatte, als sie die Höhle verlassen wollte? War es sein Weg gewesen, um sie aufzuhalten?
    Der Drache, dachte Teres, muss etwas von mir wollen. Diese Erkenntnis war wie ein kleiner Flohstich, an dem man einfach kratzen musste, obwohl man wusste, dass es die Angelegenheit schlimmer machte, nicht besser. Bald konnte sie nicht mehr aufhören, daran zu denken. Und immerhin tat es weniger weh, als über Sani nachzugrübeln.
    Was konnte es sein, das er von ihr wollte?
    ***
    Als sie in der dritten Nacht wieder zu ihm ging, trug sie nicht ihr Nachtgewand, sondern die Stallkleidung, die sie und ihre Geschwister gewöhnlich anzogen, wenn es ihre Aufgabe war, den Drachen zu säubern, und hatte sich das Haar hochgebunden, um älter und reifer auszusehen. Er sollte nicht glauben, dass sie ein Kind war, das man leicht einschüchtern konnte.
    „Ich entschuldige mich nicht“, sagte sie. „Aber wenn du planst, mich dafür zu bestrafen, dass ich dich geschlagen habe, dann wäre es mir lieber, wenn du das gleich tätest, statt es weiter aufzuschieben.“ Sie spürte, wie ihre Entschlossenheit sie mutiger machte.„Und wenn es etwas gibt, das du von mir willst, dann kannst du mir das auch gleich verraten.“
    Er hob die Lider und starrte sie wieder mit seinen dunklen, endlos tiefen Augen an. Teres hielt den Atem an, jedenfalls so lange, wie sie es vermochte.
    Der Drache schwieg weiter.
    Sie zwang sich, nicht nervös von einem Bein auf das andere zu treten, sondern beide Füße fest auf dem Boden zu halten und ihn genauso anzustarren, als sei sie die Riesin und er der Winzling.
    Vielleicht war ihm in jener Nacht einfach nur langweilig gewesen, und er hatte deswegen mit ihr gesprochen? Vielleicht würde sich das nie mehr wiederholen. Obwohl sie nun so oft schon in seiner Gegenwart gewesen war, wusste Teres im Grunde überhaupt nichts über den Drachen, das wurde ihr mit jedem Herzschlag deutlicher. Nicht nur, dass ihr unbekannt war, woraus genau der Zauber bestand, der ihn an den Clan Dekapa band; sie hatte sich bisher auch noch nie gefragt, was es ihm eigentlich brachte, dass er hier bei ihnen lebte. Es gab Kühe auf den Bergweiden, denen die Vögel Maden aus dem Fell pickten, aber deswegen gaben die Kühe den Vögeln noch lange keine Milch und beschützten sie ganz gewiss nicht.
    Wenn der Drache nur bei ihnen lebte, weil ihn irgendein Zauber zwang, dann wartete er am Ende nur darauf, diesem Bann zu entkommen. Vielleicht hasst er uns alle insgeheim, weil wir ihn hier festhalten?
    Den letzten Gedanken musste sie laut ausgesprochen haben, denn der Drache schnaubte noch einmal, und diesmal lange genug, damit nicht nur Asche, sondern Funken über seinen Nüstern wirbelten.
    „Teres aus dem Clan Dekapa“, sagte der Drache, „du weißt nicht, was Hass bedeutet, und du hast keine Ahnung von Liebe. Aber klettere auf meinen Rücken und fliege mit mir. Ich werde dir zeigen, was es mit beidem auf sich hat.“
    Damit hatte sie nicht gerechnet!
    Vor fünf Jahren, kurz nach Teres’ zehntem Geburtstag, war ihre Großmutter gestorben. Damals waren ihre Eltern auf den Rücken des Drachen geklettert, mit dem toten Körper in den Armen des Vaters, und der Drache hatte sie hoch zu den Sternen getragen, so hoch, dass Teres und die anderen Kinder des Clans vom Boden aus nur ein kurzes, heftiges Glühen wahrnahmen, als die sterblichen Überreste ihrer Großmutter der Luft und dem Feuer im Atem des Drachen

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