Feuerkind
ob er eine Brandwunde hatte oder nicht.
»Sie verschwinden jetzt«, sagte Charlie leise.
Jules griff sich unter die Jacke, und wieder machte Rainbird sich bereit, ihn zu erschießen. Er würde es erst dann tun, wenn Jules seine Waffe ganz gezogen hatte und seine Absicht klar war, Charlie wieder ins Gebäude zurückzubringen.
Aber kaum hatte er die Kanone halb draußen, als er sie mit einem Aufschrei fallen ließ. Mit weit aufgerissenen Augen sprang er zwei Schritte von dem Mädchen zurück.
Charlie wandte sich halb ab, als interessiere Jules sie nicht mehr. In der Mitte der Längsseite des L ragte ein Wasserhahn aus der Wand, unter dem ein halb mit Wasser gefüllter Eimer stand.
Träge stieg Dampf aus dem Eimer auf.
Rainbird glaubte nicht, daß Jules es bemerkt hatte, denn sein Blick war auf Charlie geheftet.
»Raus, Sie Schwein«, sagte sie, »oder ich verbrenne Sie. Ich werde Sie rösten.«
John Rainbird spendete Charlie stummen Applaus.
Jules blieb unentschlossen stehen und sah sie an. In diesem Augenblick, den Kopf gesenkt und leicht schief, mit flackerndem Blick, sah er aus wie eine gefährliche Ratte. Rainbird war bereit, ihr Spiel mitzuspielen, falls sie eins beabsichtigte, aber er hoffte, daß Jules vernünftig sein würde. Ihre Kräfte konnten sehr leicht außer Kontrolle geraten.
»Verschwinden Sie jetzt«, sagte Charlie. »Dahin, wo Sie hergekommen sind. Ich werde genau aufpassen. Bewegen Sie sich! Raus hier!«
Die schrille Wut in ihrer Stimme gab den Ausschlag. »Langsam, langsam«, sagte er. »Okay. Aber wohin wolltest du schon gehen? Es wird verdammt schwer für dich werden.«
Während er sprach, glitt er an ihr vorbei und bewegte sich rückwärts zur Tür.
»Ich werde aufpassen«, sagte Charlie böse. »Wagen Sie es nicht, sich auch nur umzudrehen, Sie … Sie Stück Scheiße.«
Jules ging. Er sagte noch etwas, aber Rainbird konnte ihn nicht verstehen.
»Verschwinden Sie!« schrie Charlie.
Den Rücken Rainbird zugewandt, stand sie im Eingang, eine schmale Silhouette in der fahlen Nachmittagssonne. Wieder überkam ihn ein Gefühl der Zuneigung. Dies war also der Ort ihrer Verabredung.
»Charlie«, rief er leise von oben. Sie erstarrte und trat einen Schritt zurück. Sie drehte sich nicht um, aber er spürte deutlich, wie beim Klang seiner Stimme die Wut in ihr aufstieg, wenn es auch nur daran zu erkennen war, daß sie ganz langsam die Schultern hob.
»Charlie«, rief er noch einmal. »Heh, Charlie.«
»Sie!« flüsterte sie. Er hörte es kaum. Irgendwo unter ihm Schnaubte leise ein Pferd.
»Ja, ich bin es«, bestätigte er. »Ich war es die ganze Zeit.«
Jetzt drehte sie sich doch um und schaute den langen Gang hinunter. Rainbird beobachtete sie dabei, aber sie sah ihn nicht; er hockte hinter einem Stapel Heuballen und war in der Dunkelheit, die auf dem Boden herrschte, nicht zu erkennen.
»Wo sind Sie?« rief sie heiser. »Sie haben mich betrogen! Sie waren es! Mein Daddy sagt, daß Sie es waren, damals bei Großvaters Haus!« Instinktiv griff sie sich an den Hals, wo er sie mit dem Pfeil getroffen hatte. »Wo sind Sie?«
Das möchtest du wohl gern wissen, Charlie.
Ein Pferd wieherte; diesmal war es kein Laut der Zufriedenheit, es war ein Laut plötzlicher, tiefer Angst. Der Schrei wurde von einem anderen Pferd aufgenommen. Es gab ein dumpfes Krachen, als einer der Vollblüter gegen die verriegelte Tür seiner Box trat.
»Wo sind Sie?« schrie sie wieder, und Rainbird merkte, daß die Temperatur plötzlich anstieg. Direkt unter ihm wieherte eines der Pferde – vielleicht Necromancer – laut, und es hörte sich an, als ob eine Frau schrie.
9
Kurz und schrill ertönte der Summer, und Cap Hollister betrat Andys Quartier unter dem Nordgebäude. Er war nicht mehr der Mann, der er noch vor einem Jahr gewesen war. Jener Mann war zwar schon älter, aber zäh, gesund und scharfsinnig gewesen; jener Mann hatte ein Gesicht gehabt, das man bei einem Mann vermutet hätte, der im November bei der Entenjagd plötzlich aus dem Schilf auftaucht, die Schrotflinte lässig in der Hand. Dieser Mann aber bewegte sich wie abwesend und mit schlurfenden Schritten. Sein Haar, vor einem Jahr noch stahlgrau, war jetzt fast weiß und schütter wie das eines Babys. Sein Mund zuckte unkontrolliert. Aber die größte Veränderung war an seinen Augen festzustellen, die verwirrt und irgendwie kindisch blickten. Dieser Ausdruck wurde gelegentlich durch mißtrauische und ängstliche Seitenblicke abgelöst,
Weitere Kostenlose Bücher