Feuermal: Der zweite Fall für Jan Swensen
nochmal. Wieder hat sich eine Traube stummer
Männer und Frauen vor einem unsichtbaren Fernseher weit hinten im Raum
gebildet.
»Es
muss was passiert sein!«, sagt Swensen scharf.
»Na,
so schlimm wird’s schon nicht sein«, versucht Anna sich zu beruhigen. Er
registriert, dass ihre Stimme unterschwellig bebt. Sein Körper reagiert völlig
überdreht. Ihm ist heiß, Schweiß rinnt seine Brust hinab. Er merkt, wie der ungewisse
Zustand seinen Blick auf den Ort verändert. Seine Gedanken haben einen diffusen
Druck über die vertraute Urlaubsidylle gelegt.
Dabei
ist alles genauso, wie heute Morgen, denkt er. Was hatte er gestern über den
Geist im neuen Buch seines Meisters gelesen?
»Was
wir Geist nennen, ist ein immerwährender Strom von Wahrnehmung. Die Ursache für
deinen jeweiligen Augenblick ist der vorhergegangene geistige Augenblick dieses
Stroms. Da dein Geist aber nicht materiell ist, gibt es außerhalb von dir auch
keine materiellen Objekte für deinen geistigen Zustand. Der Geist ändert sich
stetig und so verändert er auch deine Gefühle. Er ist wie eine Flagge im Wind,
die wechselnden Umstände halten ihn in Bewegung.«
Swensen
versucht, sich nicht weiter von seinen Gedanken überwältigen zu lassen, übt den
neutralen Blick. Fast in jedem Erdgeschoss der zweistöckigen Häuser befinden
sich Souvenirläden, voll mit bunten Schwimmreifen, Postkarten und
Schildkrötenkitsch. Anna und er lassen den Ortskern hinter sich. Wenig später erreichen
sie ihre Ferienanlage. Rechts fließt der Daylan-Fluss. Die Felswand gegenüber
liegt bereits im Schatten. Die dort in den Stein gehauenen Königsgräber
erscheinen düster und unwirklich. Die Giebel und Säulen ähneln griechischen
Tempeln. Jeden Morgen beim Frühstück blicken sie von der Terrasse ihrer
Ferienwohnung aus direkt darauf. Dann erstrahlen die Überreste des antiken
Kaunos im Sonnenlicht.
Çapkin,
der kleine schwarze Mischlingsrüde des Vermieterehepaars Günes, stürmt ihnen
mit dem Schwanz wedelnd am Eingang zur Anlage entgegen.
Ȃapkin
heißen Casanova «, hatte Frau Günes augenzwinkernd bei der Ankunft
erklärt. »Immer jagen hinter Hündinnen!«
Der
Hund trabt neben ihnen her und kläfft übermütig. Da öffnet sich ein Fenster in
dem Haus der Günes. Ein untersetzter älterer Türke mit leichtem Glatzenansatz
ruft zu ihnen herüber: »Frau Diete, Herr Swensen, Sie müssen die Nachrichten
schauen!«
Swensens
beklemmendes Gefühl ist sofort wieder da. Anna hatte dem Mann scherzhaft den
Namen Konsul gegeben, als sie erfahren hatten, dass er bis zur Rente im
türkischen Konsulat in Köln tätig gewesen war.
Der Konsul ist eine elegante Erscheinung und spricht perfekt d eutsch. Einen Moment später steht er mit Herrn Günes vor der
Haustür, der die Deutschen hereinbittet. Es geht durch einen kleinen Raum, in
dem eine alte, rotbraune Kommode mit einem mächtigen Frisierspiegel steht, ins
Wohnzimmer. Der Fernseher läuft. Braunschwarze Wolken quellen unablässig aus
den oberen Stockwerken eines Hochhauses. Das unwirkliche Bild auf dem Schirm
springt Swensen buchstäblich an. Sein Atem stockt. Im selben Moment, als er
einen Turm des New Yorker World Trade Center erkennt, sieht er, wie das Gebäude
zuerst unmerklich, dann immer schneller, nach unten wegsackt. Es verschwindet
in einem gigantischen Pilz aus Rauch und Staub. Trümmerteile werden
herausgeschleudert. Swensen ist starr vor Schreck. Ein Unglück, denkt er,
während sich der Staubpilz wie ein riesiges Maul an der Fassade nach unten
frisst und in die Häuserschluchten explodiert. Menschen, das blanke Entsetzen
im Gesicht, rennen um ihr Leben, werden von der Wolke eingeholt und
verschwinden im schmutzigen Nichts. Er steht benommen im Türrahmen. Frau Günes
nimmt Anna an die Hand und setzt sich mit ihr auf ein dunkelgrünes Plüschsofa. Swensen
bleibt stehen. Auf dem Bildschirm erscheint ein türkischer Nachrichtensprecher.
Der Konsul übersetzt in abgehackten Intervallen ins Deutsche.
»Heute
Morgen um 8.45 Uhr … steuerte eine Boeing 767 … in den Nordturm des World Trade
Center. Achtzehn Minuten später … schlug ein baugleicher Jet in den Südturm.«
Am
linken Rand des Bildschirms taucht ein Spielzeugflugzeug auf und verschwindet
in der Fassade, als würde es in ein Stück Butter gleiten. Der Turm zerfetzt in
einem riesigen Feuerball.
Seine
Gedanken sind plötzlich hohl. Immer wieder spricht eine Stimme: Das kann nicht
sein, unmöglich, das kann nicht wahr sein.
Er
sieht eine
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