Feuernacht
Bemühungen der Anklage, Jósteinn ein Sexualverbrechen nachzuweisen, blieben vergeblich, zumal das Kind keine Verletzungen aufwies. Trotzdem glaubte niemand im Gerichtssaal Jósteinns Geschichte, das Kind habe sich verlaufen und er hätte ihm helfen wollen, seine Eltern zu finden. Da keine eindeutigen Beweise vorlagen, bekam Jósteinn eine sechsmonatige Bewährungsstrafe wegen Freiheitsberaubung.
Zwölf Jahre später vergriff sich Jósteinn an einem Jungen im Teenageralter, und diesmal gab es keine wachsamen Nachbarn im Wohnblock. Dóra konnte sich zwar gut an den Fall erinnern, las aber erst jetzt das Urteil, obwohl es fast zehn Jahre alt war. Sie war sich ziemlich sicher, dass Jósteinn den Jungen umbringen wollte, aber wieder griff das Schicksal ein. Die Frau, die das Treppenhaus putzte, kam einen Tag früher als gewohnt, hätte aber wahrscheinlich gar nichts bemerkt, wenn sie wie üblich nur gestaubsaugt hätte. Aber ein Kleinkind hatte an der Wand neben Jósteinns Wohnungstür Eis verschmiert, weshalb sie ungewöhnlich lange dort putzte. Als sie den Staubsauger ausschaltete, hörte sie Jammern und unterdrückte Schmerzschreie, und nach kurzem Zögern beschloss sie, lieber die Polizei zu rufen, anstatt selbst anzuklopfen und zu überprüfen, was dort los war. In ihrer Aussage stand, sie hätte noch nie solche Laute gehört, sie müssten von großen Qualen herrühren. Die Polizei drang also erneut in Jósteinns Wohnung ein, und diesmal erwischte sie ihn im Bett.
Beim Lesen des Urteils war Dóra auf ein merkwürdiges Detail gestoßen. Während der Ermittlungen hatte die Polizei einen anonymen Hinweis auf Fotos bekommen, die Jósteinn gehörten. Sie waren über einen längeren Zeitraum aufgenommen worden und zeigten deutlich, wie viele Kinder er im Lauf der Jahre auf unterschiedlichste Weise missbraucht hatte. Diese Fotosammlung brachte die Ermittlung einen großen Schritt voran, da die anderen Punkte aus Jósteinns Anklage sonst wohl nur zu ein paar Jahren Gefängnis geführt hätten. Nach der Entdeckung der Fotos bekam die Polizei endlich auch einen Durchsuchungsbefehl für Jósteinns Arbeitsplatz. Er arbeitete damals bei einer Computerfirma, und dort fand man eine gigantische Menge von Kinderpornographie, wodurch die Anklage erheblich verschärft werden konnte. Bei der Gerichtsverhandlung wurde ein psychiatrisches Gutachten vorgelegt, dem zufolge Jósteinn wegen schwerwiegender psychischer Störungen für schuldunfähig erklärt wurde. Der Richter entschied, dass er in einer Anstalt für psychisch kranke Straftäter untergebracht werden sollte, bis er therapiert und für seine Umgebung als ungefährlich einzustufen sei.
Bei dem merkwürdigen Telefonat mit Dóra hatte Jósteinn gesagt, er wolle einen alten Fall wieder aufrollen, aber Dóra wusste nicht, ob er damit den ersten oder den zweiten Fall meinte. Beides wäre ohnehin zwecklos. Im ersten Fall hatte er ein unglaublich mildes Urteil bekommen, und der zweite Fall war so offenkundig, dass es keine Anhaltspunkte gab, die auf ein zweifelhaftes Verfahren oder Urteil schließen ließen. Dóra konnte sich am ehesten vorstellen, dass Jósteinn den Beschluss über seine Strafunfähigkeit anfechten und dadurch entweder in einen normalen Strafvollzug kommen oder freigesprochen werden wollte. Nach dem kurzen Telefonat ließ sich schwer sagen, ob sich sein seelischer Zustand verbessert hatte; er klang ganz normal, nur etwas ungeduldig und überheblich. Wahrscheinlich war er noch genauso krank wie am Tag seiner Einlieferung. Aus der Diagnose des Psychiaters ging hervor, dass Jósteinn unter schwerer Schizophrenie und Persönlichkeitsstörungen litt, die man wahrscheinlich durch Medikamente und Therapie eindämmen, aber unmöglich heilen konnte.
Dóra stieg aus dem Wagen und nahm ihre Aktentasche vom Rücksitz, in der sich die Ausdrucke der beiden Urteile und ein großes Notizbuch befanden. Sie musste bestimmt nicht viel notieren und würde den Fall höchstwahrscheinlich unter einem Vorwand ablehnen. Die Beschreibungen dessen, was Jósteinn mit dem Jugendlichen gemacht hatte, ließen ihr keine Ruhe, und sie wollte nicht dazu beizutragen, dass der Mann freigelassen wurde. Im Grunde hätte sie die Sache von Anfang an ablehnen sollen. Dóra knallte die Autotür zu und ging zum Eingang. Sie war nicht in der Lage, den psychischen Zustand einer Person zu beurteilen, und wusste nicht, wie sie die Situation einschätzen sollte: War Jósteinn inzwischen psychisch gesund,
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