Feuersee
Er neidet mir den Einfluß, den ich
auf Edmund habe. Dazu kann
ich nur sagen: Alter Mann, du hast deine Chance gehabt.
»Baltasar hat einen Weg gefunden, der uns durch
die Tunnel in die Tiefe führt. Ich habe dir das schon einmal
erklärt, Vater.
Wir werden nur anfangs unter Kälte zu leiden haben; je weiter
wir vordringen,
desto wärmer wird es.«
»Dummheiten aus irgendwelchen Büchern,
nehme ich
an. Laß das verflixte Ding.« Die letzte Bemerkung
bezieht sich auf die Lampe.
»Verschwende nicht deine Magie. Ich brauche kein Licht. Oft
habe ich hier
gestanden. Ich würde mich auch mit verbundenen Augen
zurechtfinden.«
Ich höre ihre Bewegungen in der Dunkelheit. Fast
glaube ich zu sehen, wie der König Edmunds hilfreichen Arm zur
Seite stößt und
ohne Zögern aus dem Portal tritt. Ich bleibe im Gang stehen
und bemühe mich,
die Kälte zu ignorieren, die mir in Gesicht und Hände
beißt, während meine Füße
langsam taub werden.
»Ich halte es nicht mit den
Büchern«, bemerkt
der König verärgert zu seinem Sohn, dessen festere
Schritte ich neben seinen
bedächtigen höre. »Baltasar verbringt viel
zuviel Zeit über den alten
Folianten.«
Vielleicht wärmt der Zorn das Herz des alten
Mannes besser als das mittlerweile erloschene Flämmchen der
Gaslampe.
»Die Bücher waren es, die uns versprachen, sie würden zurückkommen, und du siehst ja, was
davon zu halten ist! Bücher.« Er
schnaubt verächtlich. »Ich traue ihnen nicht. Wir sollten ihnen nicht
trauen! Vor Hunderten von Jahren mag gestimmt haben, was dort
geschrieben
steht, aber seither hat sich die Welt verändert. Die Wege, auf
denen unsere
Vorfahren in dieses Reich gelangten, sind wahrscheinlich
längst verschüttet und
zerstört.«
»Baltasar hat die Tunnel ausgekundschaftet, so
weit er alleine vorzudringen wagte. Er stellte fest, daß man
sie begehen und
sich auf die Karten verlassen kann. Du mußt bedenken, Vater,
daß die Tunnel von
Magie erhalten werden, von der alten, starken Magie, der auch unsere
Welt ihre
Entstehung verdankt.«
»Alte Magie!« Der Zorn des alten Mannes
tritt
unverhohlen zutage. »Die alte Magie hat versagt. Deshalb
bricht alles zusammen!
Statt Aufschwung und Glück herrschen Armut und Elend! Wo
fruchtbares Land war,
ist Wüste! Wasser erstarrt zu Eis! Statt Leben bringen wir Tod
hervor!«
Er steht auf dem Portikus des Palastes und
schaut auf seine Stadt. Seine stofflichen Augen sehen die ewige Nacht,
die sich
auf sein Reich herabgesenkt hat und die nur von wenigen Lichtem
durchbrochen
wird, die hier und da in dem unsichtbaren Häusermeer funkeln.
Diese Lichtpunkte
bezeichnen seine Untertanen – es sind zu wenige, viel zu
wenige. Der
überwiegende Teil der Häuser im Reich Kairn Telest
ist dunkel und kalt. Wie die
Königin kommen jene, die nun diese Häuser bewohnen,
sehr gut ohne Licht und
Wärme aus; man verschwendet es nicht an sie.
Seine stofflichen Augen nehmen die Dunkelheit
wahr, wie sein stofflicher Körper die Kälte
empfindet, doch er ist gefeit
dagegen. Er betrachtet seine Stadt mit den Augen der Erinnerung, eine
Gabe, an
der er versucht, seinen Sohn teilhaben zu lassen. Jetzt, da es zu
spät ist.
»In der alten Welt, vor der Großen
Teilung, soll
es einen Ball aus Feuer gegeben haben, die
›Sonne‹. Ich habe davon in einem
Buch gelesen«, erläutert der König trocken.
»Baltasar ist nicht der einzige,
der lesen kann. Wie die Welt in vier Teile geteilt wurde, so geschah es
auch
mit der Sonne. Ihr Feuer wurde in die Mitte unserer Welt
eingefügt – es ist
Abarrachs Herz, und wie ein Herz hat es Zuflüsse, die das
Lebenselixier
Wärme und Energie zu den Gliedmaßen des
Körpers
transportieren.«
Ich höre ein Rascheln – ein Kopf bewegt
sich in
der schützenden Hülle vieler Lagen Stoff. Der
König hebt den Blick von seiner
dunklen Stadt und richtet ihn in die Ferne. Auch dort begegnet ihm nur
Schwärze, aber vielleicht sieht er vor seinem inneren Auge ein
lichtes, warmes
Land und lebendiges, saftiges Grün unter den glitzernden
Stalaktiten der
hochgewölbten Felsendecke – ein Land, in dem Kinder
lachten und tollten.
»Unsere Sonne war dort draußen.«
Wieder ein
Rascheln. Der greise König hat die Hand gehoben und deutet in
die unerbittliche
Finsternis.
»Der Koloß«, sagt Edmund leise.
Er hat Geduld mit seinem Vater. Es gäbe viel, so
viel zu tun, doch er steht neben dem alten Mann und lauscht
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