Fey 01: Die Felsenwächter
wir keine Feinde mehr sind. Ihr müßt lernen, mit uns zu leben.«
Mit Adleraugen verfolgte die Mutter jede Bewegung Jewels, die den Schmutz von den Röcken des Kindes klopfte. Die Fey staunte, wie dick der Stoff war. In solchen Kleidern würde sie glatt ersticken.
»Vielleicht kannst du deiner Mutter auch beibringen, daß es viel praktischer für Kinder ist, Hosen zu tragen, ob sie nun Jungen oder Mädchen sind.«
»Ich dachte, Ihr wolltet unsere Sitten nicht verändern.« Die Frau hatte erneut das Wort ergriffen, und ihre Stimme war voller Bitterkeit, obwohl sie den Kopf so respektvoll neigte, wie die Fey es befahlen. Jewel wollte sie im ersten Moment für diese Provokation bestrafen, entschied dann aber, daß ihre Zeit zu kostbar sei. Schon jetzt würde sie sich zu der Versammlung, die ihr Vater einberufen hatte, verspäten.
»Wir verändern nur die Gebräuche, die mit einem gesunden, produktiven Lebensstil unvereinbar sind. Kinder müssen sich bewegen und nicht wie kleine gezierte Äffchen bei Banketten herumsitzen.« Jewel lächelte, legte eine Hand unter das Kinn der Frau und hob ihren Kopf, bis ihre Blicke sich trafen. »Wenn sie anders gekleidet wäre, hätte sie mich nicht umgerannt.«
»Ihr habt kein Recht, unseren Lebensstil zu ändern«, sagte die Frau.
»Dazu haben wir jedes Recht«, gab Jewel zurück. »Wir haben beschlossen, eure Gebräuche nicht zu verändern, weil sie eure Produktivität erhalten. Ihr seid diejenigen, die keine Rechte haben. Ihr habt sie vor sechs Monaten verloren, als mein Großvater Herrscher über Nye wurde.«
Entsetzen breitete sich auf den Zügen der Frau aus. Ihre großen, runden Augen zogen sich zu schmalen Schlitzen zusammen, der Mund öffnete sich vor Staunen. »Ihr seid die Enkelin des Schwarzen Königs?«
Jewel ließ die Hand sinken und widerstand dem Drang, sie an ihren Reithosen abzuwischen. »Da hast du Glück gehabt, daß ich heute morgen so gut gelaunt bin, nicht wahr? Mich herauszufordern heißt, alle Fey herauszufordern.«
Panik trieb Röte in das Gesicht der Frau. Hastig zog sie ihre kleine Tochter an sich. Jewel übersah diese Geste und strich dem Mädchen eine lose Haarsträhne hinter das Ohr. »Paß gut auf deine Mutter auf, Esmeralda«, sagte sie und ging dann langsam die Straße hinunter.
An der Ecke angelangt, blickte sie noch einmal zurück. Die Frau stand immer noch an der gleichen Stelle, das Mädchen eng an sich gepreßt. Jewel schüttelte den Kopf. Die Bitterkeit der Nye war sinnlos. Sie gehörten jetzt zum Reich der Fey. Je schneller sie das begriffen, desto besser für sie.
Jewel faltete die Hände hinter dem Rücken. Nach dem Gewitter war die Luft warm und stickig, nur im Schatten der großen Gebäude war es ein wenig kühler. Das größte davon, die Bank von Nye, hatte ihr Großvater zu seinem Hauptquartier erklärt. Es erhob sich vierstöckig und steinern mitten im Marktzentrum und kam von allen Bauten in Nye einem Palast am nächsten.
Es war Mittag, und die Straßen waren fast menschenleer. Die wenigen Einheimischen, die noch unterwegs waren, machten einen großen Bogen um Jewel. Vor den Gebäuden standen Wachposten der Fey. Sie nickten ihr zu, und sie erwiderte den Gruß im Vorübergehen.
Vor sechs Monaten hatten sich die Nye ergeben, und immer noch hatte ihr Großvater überall Wachen postiert. Sechs kampflose Monate waren verstrichen, und Jewel wurde langsam unruhig.
Genau wie ihr Vater.
Er schmiedete bereits Pläne für die nächste Schlacht. Jewel war bereit, auch wenn ihr Großvater von der Kampfbereitschaft seiner Streitmacht noch nicht überzeugt war. Ihre Brüder glaubten ebenfalls nicht daran, aber sie waren auch noch jung. Die Eroberung von Nye war die erste Schlacht gewesen, in der sie mitgekämpft hatten.
Jewel hatte bereits sieben Jahre Erfahrung als Kriegerin. Sie hatte mit elf Jahren angefangen zu kämpfen, war aber, sehr zum Ärger ihres Vaters und Großvaters, immer noch in der Infanterie. Ihre Brüder dagegen waren begeistert. Sie nahmen an, daß man Jewel wegen ihres Mangels an Visionen als Thronfolgerin übergehen würde.
Sie hatte ihnen ihre sonderbaren Träume verschwiegen. Nicht einmal die Schamanin hatte sie aufgesucht, um mit ihr darüber zu sprechen.
Sie war jetzt auf dem großen Platz vor der Bank von Nye angekommen. Sonnenstrahlen hatten das Kopfsteinpflaster erwärmt, und Dunstwolken stiegen auf. Durch ein geöffnetes Fenster hörte Jewel, wie die Stimmen ihres Vaters und Großvaters
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