Fey 02: Das Schattenportal
»Nein«, sagte er dann. »Außer Euch. Ich bin ja gerade erst gekommen.«
Matthias nickte. Irgend jemand mußte etwas gesehen haben. Jemand mußte wissen, woher das Blut stammte. Vielleicht hatte ein Aud sich verletzt. Vielleicht hatte jemand einen Feind aus der Sakristei vertrieben.
»Glaubt Ihr, daß es die Fey waren?« fragte Andre.
Matthias sah ihn an. Diesem Gedanken hatte er ausweichen wollen, aber jetzt, wo er ausgesprochen war, jagte er ihm einen Schauder über den Rücken. »Ich hoffe nicht«, erwiderte er.
»Vielleicht ist es ein Wunder«, meinte Andre hoffnungsvoll.
Matthias lächelte. »Hier hat es seit hundert Jahren keine Wunder mehr gegeben.«
»Das ganze Leben ist ein Wunder«, erklärte Andre affektiert.
»Vielleicht«, erwiderte Matthias. »Aber ich ziehe es vor, es als etwas ganz Gewöhnliches zu betrachten.«
Andre warf ihm einen seltsamen Blick zu. Etwas Kühles und Abschätzendes lauerte hinter den Augen des Mannes. »Es ist ein Wunder«, wiederholte er mit Betonung, aber zum ersten Mal, seit er Andre kannte, nahm ihm Matthias seine Überzeugung nicht ab.
Schließlich stand Matthias auf. Nach dieser Entweihung der Sakristei hatte er keine Hoffnung mehr, sich ins Gebet versenken zu können. Dem Rocaan würde das Herz brechen, und Matthias war nicht sicher, ob der alte Mann noch mehr Aufregung vertragen konnte. In letzter Zeit schien er allem nicht nur entrückt, sondern auch ein bißchen verrückt zu sein, als hörte er als einziger die Stimme Gottes. Auch was der Rocaan tat, beunruhigte Matthias. Porciluna war nicht mehr auf die Ältestenversammlung zurückgekommen, aber Matthias glaubte nicht, daß er seinen Plan aufgegeben hatte. Angesichts dieses neuen Vorfalls war es um so wichtiger, daß die Ältesten zusammenhielten.
»Hol einen Aud«, befahl Matthias. »Niemand soll diesen Fleck berühren.«
Andre nickte. Auch er erhob sich. Einen Augenblick lang überlegte Matthias, ob er Andre von dem Knochen erzählen sollte. Aber dann befand er, daß die Einzelheiten warten konnten. Außerdem mußte der Rocaan als erster davon erfahren.
Matthias folgte dem Gang in umgekehrter Richtung. Andre dagegen verließ den Raum durch die Danitentür am hinteren Ende, den Ausgang, den der Rocaan immer benutzte, wenn er selbst die Zeremonie leitete. Matthias drehte sich um und warf einen letzten Blick in die Sakristei. Der Blutgeruch war noch stärker geworden. Er wußte nicht, was hier vor sich gegangen war, aber er war sich auch nicht sicher, ob er es wirklich wissen wollte.
Der Gedanke, daß sich ausgerechnet im Tabernakel etwas Bedrohliches abgespielt hatte, gefiel ihm überhaupt nicht.
Als er die Eichentür erreicht hatte, bückte er sich nach seinen Sandalen. Seine Füße waren eiskalt, die Zehennägel blau angelaufen. Er hatte den Verdacht, daß seine Angst mindestens genauso daran schuld war wie die Kälte. Er hatte Andre angelogen: Bestimmt hatte der Vorfall etwas mit den Fey zu tun. Matthias hatte einige Zeit damit verbracht, über das, was in dem Tunnel bei den Verliesen mit Stephan und Lord Powell geschehen war, nachzudenken. Auch dort hatte man Blut und Knochen gefunden.
Genauso wie während der Invasion. In den Baracken hatte eine Wache eines Morgens den Fußboden mit Knochen übersät vorgefunden, und daneben hatte eine Leiche gelegen. Auch an anderen Stellen waren Knochen aufgetaucht, zum Teil sogar in der Nähe des Palastes. Monte, der Hauptmann der Königlichen Wache, hatte den Verdacht geäußert, daß die Funde im Zusammenhang mit den Fey standen, aber es war nicht zu erkennen gewesen, ob sie von Fey stammten, die das Weihwasser getötet hatte, oder von Menschen.
Knochen und Blut. Knochen und eine Leiche. Matthias umklammerte die Trophäe in seiner Tasche noch fester. Etwas war dort in der Sakristei geschehen, und jemand hatte sich bemüht, die Spuren zu beseitigen. Matthias war entschlossen herauszufinden, wer.
Er strich mit dem Finger über die Schnitzereien auf dem Türflügel und berührte das Schwert, das der dem Untergang geweihte Roca in die Höhe hielt. Der Roca war im Profil mit grimmigem Gesicht dargestellt. Trotzdem war es dem Schnitzer nicht gelungen, die Augen menschlich wirken zu lassen. Was hatte der Roca gewußt, das sie alle vergessen hatten? Was hatte ihm so viel Macht verliehen, daß man sich seiner erinnerte und er der Gottgefällige war?
Matthias lehnte den Kopf gegen das Holz. Zum ersten Mal, seit er erwachsen war, wünschte er sich, Glauben statt Wissen
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