Fey 04: Die Nebelfestung
Solanda keine Sekunde mit dem Neugeborenen allein. Deswegen mußte Solanda ihre Zeit gezwungenermaßen im Kinderzimmer mit diesem Lehmklumpen verbringen, den Nicholas unbeirrt als seinen Sohn bezeichnete. Solanda hatte versucht, es ihm zu erklären, aber er hatte ihr nicht zugehört. Er beharrte darauf, Jewel hätte es bemerkt, wenn der Klumpen nicht ihr Sohn gewesen sei. Jewel hatte es nicht gewußt. Auch ein Fey sieht nicht alles.
Wenn er sich seiner toten Frau gegenüber loyal verhalten wollte, na schön. Dann behielt Rugar eben Nicholas’ Sohn bei sich. Für Solanda spielte das keine Rolle. Ihr ging es nur um eines: Arianna am Leben zu erhalten. Dem Inselkönig würde sie so gut es ging aus dem Weg gehen. Sie mußte sich ja nicht unbedingt in sein Leben einmischen. Wenn er nicht verstand, daß das, was er als Kind bezeichnete, nichts weiter war als ein Stein, dem man künstliches Leben eingehaucht hatte, dann verstand er wahrscheinlich manches andere noch viel weniger.
Solanda wollte sich nicht in diese Angelegenheiten verwickeln lassen. Sie würde sich um Arianna kümmern und um sonst gar nichts.
Sie blickte über die Schulter zu dem kleinen Mädchen hinüber. Von ihrem Platz auf dem Fensterbrett konnte sie in die Wiege sehen. Ariannas feiste Händchen zappelten in der Luft, ihr Glucksen löste bei Solanda ein wohliges Schnurren aus. Diese ruhigen Momente waren selten und machten Solanda nervös.
Arianna war ein schwieriges Kind, schwieriger noch, als es Solanda erwartet hatte. Seit Ariannas Geburt war Solanda nicht von ihrer Seite gewichen. Zum Glück fürchtete sich die Kinderfrau vor den Verwandlungen der Katzenfrau und befolgte jeden Befehl, den Solanda ihr erteilte.
Und sie befolgte sie noch schneller, wenn Solanda ihr die Befehle in Katzengestalt gab.
Aber die Kinderfrau warf Solanda immer noch aus der Wiege, wenn sie Katzengestalt angenommen hatte. Der alte Aberglaube ließ sich eben nur schwer ausrotten. Die Kinderfrau war davon überzeugt, daß Katzen Säuglinge erstickten. Vielleicht die richtigen Katzen. Aber dieses Kind gehörte Solanda mehr als allen anderen. Sie würde Arianna niemals auch nur ein Haar krümmen.
Bis jetzt hatte sich Arianna seit ihrer Geburt zweimal Verwandelt. Und sie hatte es niemals als Reaktion auf besondere Ereignisse getan. Das erschreckte Solanda.
Nein. Anscheinend hatte Arianna nur gespielt.
Die erste Wandlung war besonders drastisch gewesen. Eben noch hatte das kleine Mädchen mit seinen kleinen, weit offenen Augen zur Decke gesehen. Im nächsten Moment war es eine Wasserpfütze in der Wiege. Außerhalb des mütterlichen Schoßes konnten Gestaltwandler in Wasserform nicht überleben. Solanda war gezwungen gewesen, das Kind selbst zurückzuformen und dabei Wandlungstechniken anzuwenden, an die sie nicht mehr gedacht hatte, seit sie selbst ein kleines Mädchen gewesen war.
Die Kinderfrau hatte diesen Zwischenfall nicht einmal bemerkt.
Der nächste war ihr allerdings nicht entgangen. Arianna war plötzlich ein Schwanz gewachsen, dem Solandas nicht unähnlich. Er war sogar buntgescheckt und hatte an der Spitze das gleiche Muster wie bei Solandas. Solanda hatte Arianna aus den Windeln ausgepackt und festgestellt, daß Schwanz und Fell am Unterleib der Kleinen endeten. Arianna hatte es so eingerichtet, damit ihre kleinen Finger etwas hatten, woran sie sich festhalten konnten.
Teilweise Veränderungen galten eigentlich als unmöglich, aber Arianna versuchte deutlich, ihre Grenzen auszuprobieren.
Und diese Grenzen waren sehr weit gesteckt.
Solanda ängstigte diese Vorstellung. Der Reifeprozeß, den die Fey durchliefen, spielte sich nach einem vorhersehbaren Muster ab. Und das war ein wahrer Segen, wie Solandas Mutter immer zu sagen pflegte. Man stelle sich ein Doppelgänger-Kind vor, das alles, was ihm gerade entgegenkam, abschlachtete und übernahm. Oder einen Fußsoldaten, der jedem, den er berührte, die Haut abzog. Oder selbst einen Domestiken, der eine Decke aus dünner Luft entstehen ließ und darunter erstickte. Das Chaos wäre kaum zu bändigen. Die Fey wären außerstande gewesen, über mehrere Generationen zu überleben.
Nur die wirklich bedeutenden Zauberkräfte machten sich schon in der Kindheit bemerkbar. Ein Visionär hatte vor der Pubertät nur eine einzige wichtige Vision. Eine Schamanin heilte manchmal ein Elternteil. Zaubermeister wurden bereits im Mutterleib von bindenden Kräften in ihrer Entfaltung gezügelt.
Und Gestaltwandler entschieden
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