Fey 07: Die Augen des Roca
seine lange, dünne Frau zu vertreiben.
Jedenfalls dieses Mal.
Paushos Mund war trocken. Sie war beinahe siebzig Jahre alt, hütete die alten Weisheiten und hätte nie gedacht, daß sie je etwas anderes damit bewirken würde, als das Blut der Klippler rein zu erhalten. Nicht einmal das war ihr geglückt. Von all den Säuglingen, die in den Bergen ausgesetzt worden waren, hatten mehr als zwei Dutzend überlebt. Manche davon hatte die fehlgeleitete Güte kinderloser Frauen gerettet, andere waren von jungen Auds aus anderen Gegenden entdeckt worden. Diese gläubigen Kinder wußten nichts von ihrem Erbe. Sie ahnten nicht, daß jenes mitfühlende Geschwätz in den letzten Kapiteln der Geschriebenen und Ungeschriebenen Worte dem Buch erst Generationen nach dem Tod des Roca zugefügt worden war.
Das Original der Worte wurde in einem steinernen Behälter in einem Gewölbe unter dieser Halle aufbewahrt. Pausho hatte sie gelesen, genau wie die anderen Weisen, und im Unterschied zum Tabernakel wußte man in Constantia genau, was im Laufe der Generationen zugefügt oder entfernt worden war.
Pausho atmete tief ein und legte die Hand auf ihr Herz. Die grobe Wolle des Pullovers kratzte auf ihrer Haut. Sie war für den frühen Morgen angezogen und trug einen Pullover, einen dicken Rock und darunter lange Hosen und Stiefel. Während der Versammlung würde ihr bestimmt der Schweiß ausbrechen. Aber es war zu spät, um jetzt noch nach Hause zu laufen und sich umzuziehen, zu spät, um ihrem Mann Bescheid zu sagen, zu spät, um einzukaufen.
Es handelte sich hier um einen Notfall, und Pausho mußte so schnell wie möglich handeln.
Alle mußten so schnell wie möglich handeln.
»Die Langen.«
Sie wirbelte herum. Hinter ihr stand Zak. Er war älter als sie, und das Alter hatte sein rotes Haar gelb verfärbt. Sein Gesicht war von tiefen Sorgenfalten gefurcht. Er hatte einmal zu ihr gesagt, kein Mensch könne Säuglinge zum Tode verurteilen, ohne daß man es ihm ansähe.
»Ich habe sie gesehen«, begann Pausho. »Auf dem Marktplatz.«
»Das habe ich gehört.« Zaks Stimme war tief, warm und voller Mitgefühl. Während er zum Tisch humpelte, stützte er sich auf einen Stock. »Ich habe gehört, wie du sie vertrieben hast.«
Pausho nickte. »Wir haben sie gebannt.«
»Es war gut, daß du da warst.« Zak sprach gedämpft. Seine Worte hingen zwischen ihnen. Die ganze Stadt wäre verloren gewesen, wenn einer von ihnen auch nur eine Münze von dem Langen angenommen hätte. Es war schon schlimm genug, daß Matthias sich nach all den Jahren wieder in Constantia aufhalten durfte. Aber die Weisen konnten ihn nicht von hier fernhalten. Seit dem Tag, als die fehlgeleitete Elda ihn in den Bergen gerettet hatte, hatte er einen Platz in Constantia.
Darin war die Tradition unmißverständlich: Wer aus den Bergen zurückkehrte, verdiente es zu leben.
Aber Fremde, hochgewachsene Fremde, die von außerhalb nach Constantia kamen, waren durch und durch böse. Sie mußten vertrieben werden, und gelang das nicht, so mußten sie sterben.
»Vor zwei Tagen sind die Langen gesehen worden«, sagte Zak. »Sie versuchten, im Steinbruch Arbeit zu bekommen, wie wir jetzt erst erfahren haben.«
Pausho seufzte. Heutzutage wurden so viele Kinder hier großgezogen, ohne daß man sich dabei um die Traditionen scherte. Sie gab den Auds die Schuld daran. Den Auds und dem übermächtigen Tabernakel, wo man die eigene Auslegung der Worte für die einzig richtige hielt.
Zumindest gab es augenblicklich keine Auds in der hiesigen Kirche. Pausho hatte es fertiggebracht, den Tod des letzten Aud vor dem Tabernakel geheimzuhalten.
Eine Stufe knarrte. Tri stand draußen, sein langes rotes Haar umrahmte sein Gesicht wie eine Wolke. Er war erst vierzig Jahre alt und damit der jüngste Weise. Als sein Vater vor einem Jahr starb, hatte man ihn in die Traditionen eingeführt.
»Wie es heißt, werden die Legenden Wirklichkeit«, bemerkte er. Seine Stimme zitterte ein wenig, und Pausho hörte den Unglauben darin. Sie hatte es schon immer für einen Fehler gehalten, Tri in die Führungsriege aufzunehmen. Er war als Rocaanist erzogen worden, man nannte ihn Dimitri nach einem König der Blauen Insel, und er hatte mehr auf seine religiöse Mutter als auf seinen weisen Vater gehört. Aber nach der Tradition mußten nur drei Weise einer Ernennung zustimmen, und alle hatten ihn unterstützt. Alle außer Pausho.
»Auf dem Marktplatz waren heute Lange«, sagte sie. »Ich habe sie
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