Fey 07: Die Augen des Roca
anrechnen, daß er die Niederlage so lange überlebt hat. Aber seine Invasion war kein totaler Fehlschlag. Du und dein Bruder sind ein Resultat dieser Invasion, ihr seid zwei der mächtigsten Fey, die es jemals gab.«
»Mir hat es bis jetzt nichts genützt, daß ich so mächtig bin«, äußerte Arianna. »Ich konnte Sebastian nicht helfen.«
»Sebastian ist gestorben, als er mich zu retten versuchte«, sagte Nicholas mit brechender Stimme. »Es war meine Schuld.«
Mit dieser Schuld würde er leben müssen. Er hatte den Jungen, der nicht aus Fleisch, sondern aus Stein bestand, in sein Herz geschlossen, auch wenn er kein Blutsverwandter war. Sebastian war sein Kind, das geborsten war, als es Nicholas vor dem Angriff der Soldaten des Schwarzen Königs schützen wollte.
Plötzlich durchfuhr Nicholas ein unangenehmer Gedanke. »Haben eure Mysterien Sebastian zu sich genommen, weil ich versuchte, den Schwarzen König zu töten?« fragte er die Schamanin.
Sie zuckte die Achseln. »Ich verstehe die Mysterien nicht«, erwiderte sie. »Niemand von uns versteht sie. Sie sind unvorhersehbar, mächtiger als alles, was wir kennen, und sie leiten uns auf wundersame Weise.«
»Also weißt du es nicht«, stellte Nicholas fest.
»Es ist möglich«, gab sie zurück, »aber es ist auch ebensogut nicht möglich.«
Nicholas warf Arianna einen Blick zu. Eine Träne rann über ihre Wange. Ihre Liebe zu Sebastian war tief und bedingungslos gewesen, und seit seinem Tod hatte sie kaum gesprochen. Vielleicht hatte Nicholas sie zu streng beurteilt, hatte nicht berücksichtigt, was sie alles durchgemacht hatte. Arianna hatte alles verloren: ihr Zuhause, ihr Land, ihren geliebten Bruder. Die einstige Prinzessin hauste jetzt in einer Höhle. Während sie all diese Verluste erlitt, hatte sie festgestellt, über welche Macht sie verfügte.
Nicholas streckte Arianna seine Hand entgegen, und sie kam zu ihm. Er zog sie an sich und spürte ihre Schulterblätter unter seinen Händen. Sie war so dünn und zerbrechlich, die Schamanin hatte recht. Arianna war noch nicht soweit, Entscheidungen zu treffen. Weder für sich selbst noch für ihre Familie oder ihr Land.
Noch nicht.
Nicholas mußte eine Tochter großziehen und für ihre Sicherheit sorgen. Jetzt war sie noch zu leicht zu beeinflussen. Zum Teil gab sich Nicholas selbst die Schuld daran, denn er hatte sie zu sehr vor allem beschützt. Er hatte ihr keine Möglichkeit gegeben, jemanden außerhalb des Palastes kennenzulernen. Aus Angst, sie zu verlieren, hatte er ihr ein eigenes Leben verweigert.
Jetzt aber lief er Gefahr, ihr Herz und ihre Seele gleichzeitig zu verlieren.
Er war ebenso im Recht wie die Schamanin. Der Schwarze König mußte sterben, aber nicht durch Nicholas’ Hand. Es mußte indirekt und unberechenbar geschehen. Sie brauchten einen guten Plan.
»Was sollen wir jetzt machen?« murmelte Arianna in seinen Armen. Wahrscheinlich dachte sie an Sebastian, aber es gab nichts, was sie jetzt für ihn tun konnten. Der Junge war nicht mehr am Leben, aber sie durften deshalb nicht in Untätigkeit verharren.
»Wir suchen deinen Bruder«, sagte Nicholas plötzlich, ohne nachzudenken. »Deinen wirklichen Bruder.«
Arianna wich zurück. Sie hielt Nicholas auf Armeslänge von sich. Die Schamanin starrte ihn ebenfalls überrascht an.
Nicholas blickte beide an. »Der Schwarze König ist gekommen, um seine Urenkel zu finden. Beide sind Visionäre. Vielleicht ist er nicht Ariannas wegen hier. Vielleicht sucht er den Jungen, Gabe. Aber wen er auch finden mag, er wird diese Person nach seinen persönlichen Vorstellungen formen. Wir müssen meinen Sohn finden, ehe uns der Schwarze König zuvorkommt.«
»Was hast du dann mit ihm vor?« erkundigte sich Arianna.
»Ich will ihn beschützen«, gab Nicholas zurück. »Genauso wie dich.«
8
Pausho kam als erste in der Versammlungshalle an. Das große, steinerne Gebäude war leer und trotz des frühmorgendlichen Lichts dunkel. Sie öffnete die Türen, zog die Vorhänge zur Seite und stellte ihren Korb auf den Tisch. Die anderen Weisen aus Constantia mußten in Kürze eintreffen. Sie würden nach den anderen schicken müssen.
Ihr Herz pochte heftig. Der Anblick jener hochgewachsenen, dünnen Gestalt auf dem Marktplatz war fast zuviel für ihr schwaches Herz gewesen. Dennoch hatte sie sich an den Beschwörungsgesang erinnert, nicht nur an die Gesten, sondern auch an die Worte, und das hatte die Leute stark genug gemacht, um das Wesen und
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