Fey 07: Die Augen des Roca
gewesen.
Mutter.
Dabei waren seine beiden Mütter tot. Seine richtige Mutter war vor fünfzehn Jahren gestorben. Seine Pflegemutter, Niche, war erst vor ein paar Wochen von Rugads Truppen umgebracht worden, als der Schwarze König alle Versager hatte abschlachten lassen.
Leen rannte an Fledderer vorbei die letzten Stufen hinunter.
Fledderer packte sie am Arm und hielt sie fest, bevor sie Gabe erreicht hatte.
»Laß mich los«, fauchte sie.
»Nein«, erwiderte Fledderer. »Es könnte ein Zauberspruch sein.«
»Hier?« fragte Leen. »Woher?«
Fledderer sah sich um. Abgesehen von den Schwertern und Kelchen waren die Wände mit Schalen und Wandteppichen bedeckt. Eine ganze Wand glitzerte im Glanz unzähliger Glasfläschchen. Fläschchen, die das heilige Gift enthielten.
Fledderer schluckte krampfhaft. Die Halle war lichtdurchflutet, und der Marmorfußboden erstreckte sich soweit das Auge reichte. Hinter dem Brunnen waren weitere Stufen und die Eingänge zu zwei Korridoren zu sehen, die ins Unendliche zu führen schienen. Fledderer vermutete, daß sich an ihrem Ende und am Fuß der Stufen hinter dem Brunnen noch mehr Höhlen befanden, vollgestopft mit den Utensilien der Inselreligion.
Ein Schauder überlief ihn.
»Fledderer?« fragte Leen.
»Alles hier hat etwas mit ihrer Religion zu tun. Und das Wasser ihrer Religion tötet Fey. Stell dir bloß vor, welche Wirkung die übrigen Gegenstände haben könnten. Vielleicht wurde Gabe verhext, als er den Raum betreten hat.«
»Aber wir sind doch auch Fey«, erinnerte Leen.
»Du bist noch nicht in den Besitz deiner Magie gelangt«, gab Fledderer zurück, »und ich habe überhaupt keine.«
»Oh.« Beide betrachteten Gabe. Der Junge war einen Schritt zurückgetreten. Sein Blick war allerdings immer noch verschwommen, als könne er nicht richtig erkennen, was direkt vor ihm war.
»Was tust du hier?« fragte er plötzlich. Aber er meinte nicht Fledderer und Leen. Er sprach mit der Luft.
»Vielleicht ist es eine Vision«, flüsterte Leen und wich zurück, um Gabe nicht zu berühren.
»War seine letzte Vision auch so?« fragte Fledderer, obwohl er die Antwort kannte. Gabe benahm sich wie alle anderen Visionäre. Er fiel zu Boden. Er sabberte. Er krümmte sich, manchmal vor Schmerzen, und er jaulte. Er sprach nicht in vollständigen Sätzen. Visionäre benahmen sich nicht wie die Leute in den Märchen der L’Nacin. Es war eher, als hätten sie Anfälle.
»Nein«, entgegnete Leen leise. »Es war anders.«
»Du bist nicht wirklich«, sagte Gabe jetzt und streckte die Hand aus. Er hielt inne und bewegte die Finger, als berühre er etwas.
»Siehst du das?« zischte Leen. »Er bildet sich ein, jemanden zu sehen. Ich muß ihn da wegholen.«
»Nein.« Fledderer ließ sie nicht los.
»Wenn dort wirklich jemand ist, müßten wir ihn sehen«, verteidigte sie sich.
»Nicht unbedingt«, gab Fledderer zurück. »Gabes Verstand funktioniert anders als der unsere, und seine Fähigkeiten auch.«
»Aber wenn du recht hast mit der Inselreligion, müssen wir ihn von hier fortbringen«, sagte Leen stur.
Fledderers Mund war wie ausgetrocknet. Das war ein Argument. Ein wichtiges. Aber er wußte noch immer nicht, was sie tun sollten. In all den Jahren, in denen er sich mit Magie beschäftigte, hatte er noch nie von etwas Derartigem gehört.
Oder etwa doch?
Eine Erinnerung tauchte am Rande seines Bewußtseins auf, aber er bekam sie nicht zu fassen.
»Laß mich nachdenken«, murmelte er. »Laß mich nachdenken.«
Aber je mehr er sich konzentrierte, desto ungreifbarer wurde die Erinnerung, wie ein Kind, das gerade außerhalb seines Gesichtsfeldes herumhüpfte.
»Vielleicht sieht er ja wirklich etwas«, meinte Leen.
Ihre Worte unterbrachen Fledderers Konzentration. »Das bezweifle ich nicht«, bestätigte er.
»Das habe ich nicht gemeint.« Leen sprach hastig, als wolle sie Fledderer beschwichtigen. »Ich meine, vielleicht ist da tatsächlich etwas.«
»Sag ich doch«, gab Fledderer zurück. »Vielleicht ist da etwas.«
»Aber vielleicht hat es nichts mit Feymagie zu tun«, fuhr Leen fort.
Fledderer erstarrte. Daran hatte er nicht gedacht.
»Ich meine«, fuhr Leen fort, »wir befinden uns hier an einem Ort, der offenbar etwas mit der Religion der Inselbewohner zu tun hat. Gabe ist zur Hälfte Inselbewohner. Vielleicht sieht er etwas, das nur Inselbewohner sehen können.«
Ein Schauder lief Fledderer über den Rücken. Als er damals auf Adrians Gehöft gelebt hatte, hatte er
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