Fey 09: Die roten Klippen
uns wurde von klein auf eingeprägt, derartige Grausamkeiten für völlig alltäglich zu halten.«
Mit blitzenden, dunklen Augen hob sie den Kopf. »Solange die Fey auf dem Weg nach Leutia sind, werden Menschen ihr Leben lassen. Erwachsene und Kinder. Du darfst jetzt nicht aufgeben, Nicky!«
»Ich will ja gar nicht aufgeben«, erwiderte Nicholas müde.
»O doch. Du klingst genau wie dein Vater.«
Nicholas schüttelte abwehrend den Kopf, obwohl er wußte, daß Jewel recht hatte. Er hatte dieselben Bedenken wie sein Vater. Er erinnerte sich noch gut daran, wie er damals das Kriegszimmer betreten hatte, in dem sein Vater die Listen der Toten studierte.
Ich verstehe nicht, warum du dich selbst damit quälst, hatte Nicholas damals gesagt. Es herrscht nun einmal Krieg.
Krieg.
Nicholas seufzte. Er klang tatsächlich genau wie sein Vater. Aber er war jetzt auch genauso alt wie Alexander damals und hatte dieselbe Verantwortung zu tragen.
Er hatte sie akzeptiert.
Er allein trug die Verantwortung dafür, daß seine Untertanen umgebracht wurden. Ihr Leben war ihm anvertraut. Das war ein Teil der Abmachung zwischen König und Volk, besiegelt durch das Blut des Roca, das in seinen Adern floß.
»Sie hat recht, Papa«, sagte Arianna leise. »Du mußt dich auf die Lebenden konzentrieren, nicht auf die Toten.«
»Mein Vater ist für die Blaue Insel gestorben«, entgegnete Nicholas. »Und ich habe den Mut, ihm nachzufolgen.« Er stand auf. »Ich will nur jedes weitere sinnlose Gemetzel verhindern.«
Jewel ließ ihn nicht aus den Augen.
»Wir werden alles tun, was wir können, um die Fey aufzuhalten«, warf Adrian ein. Adrian, dessen Kleider noch immer mit Fey-Blut befleckt waren.
»Es wird noch mehr Tote geben«, holte Jewel sie auf den Boden der Tatsachen zurück. »Solange mein Großvater lebt, wird es Tote geben. Und falls nicht unsere Kinder eines Tages über das Reich der Fey herrschen, werden meine Brüder auf verhängnisvolle Weise versuchen, die Politik meines Großvaters fortzuführen.«
Nicholas kannte Jewel zu gut, daran hatte selbst ihre jahrelange Trennung nichts geändert. Bei ihren letzten Sätzen war sie seinem Blick ausgewichen und hatte mit gesenktem Kopf auf ihre Knie gestarrt.
»Was noch, Jewel?« drängte er. »Du verschweigst uns etwas.«
Jetzt hob sie den Kopf. Sie sah unglaublich jung aus. Ungefähr so alt wie Gabe, höchstens ein paar Jahre älter als Arianna. Sie sah nicht aus wie ihre Mutter. Sie sah aus wie ihre gleichaltrige Fey-Schwester.
»Auch in anderen Gegenden der Insel hat es Tote gegeben«, sagte sie leise.
Nicholas schloß die Augen. Warum hatten ihn solche Nachrichten weniger erschüttert, als er noch ein Junge gewesen war? Weil er damals noch keine Verantwortung zu tragen hatte?
Oder weil er noch nicht begriffen hatte, wie kostbar ein Menschenleben war?
»Wo?« fragte er.
»In Constantia, einem Ort am Fuß dieses Berges.«
»Die Armee!« rief Fledderer aus.
Jewel nickte. Gabe nickte ebenfalls.
»Sie haben das Städtchen angegriffen«, erklärte sie. »Aber ihr Inselbewohner habt sie in die Flucht geschlagen.«
Nicholas öffnete die Augen wieder. Hatte er sich verhört? »Wie bitte?«
Jewel sah ihn mit einem kleinen, boshaften und ein wenig traurigen Lächeln an. »Sie haben die Fey in die Flucht geschlagen.«
»Wie das denn?«
»Matthias«, sagte sie, und man merkte deutlich, wie schwer ihr der Name über die Lippen kam. Sie klang haßerfüllt und bitter, und es wurmte sie offenbar, daß Matthias einmal in seinem Leben das Richtige getan hatte. »Matthias und die Dorfbewohner haben die Weisen um Hilfe gebeten. Die haben etwas durchgeführt, was sie Beschwörungsgesang nennen. Bei den Fey heißt so etwas Bannfluch. Viele von euren Landsleuten sind heute umgekommen, aber auch viele Fey. Und jeder tote Fey schwächt das Selbstvertrauen der Überlebenden.«
Nicholas überlief es kalt. »Matthias?«
Die Schamanin hatte behauptet, Matthias sei die Person, auf die es ankomme, die Schlüsselfigur. Sie hatte noch mehr gesagt, bevor sie ihr Leben ausgehaucht hatte, aber Nicholas zog es vor, sich nur an diese eine Aussage zu erinnern. Matthias war ausersehen, dem Kampf von Schwarzem Blut gegen Schwarzes Blut ein Ende zu bereiten.
»Also«, sagte Jewel bestimmt, da sie offenbar keine Lust hatte, über den Mann zu reden, den sie versucht hatte umzubringen, nachdem die Mächte ihr die Kraft zur Rache verliehen hatten. »Ihr habt heute zwei Schlachten gewonnen und eine verloren.
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