Fey 10: Das Seelenglas
meisten Inselbewohner sich ihrer magischen Fähigkeiten nicht bewußt waren und daß ihr religiöses System auf der Vorstellung beruhte, nur einige wenige Auserwählte verfügten über Magie, diese aber beschlossen hatten, ihre Fähigkeiten niemals einzusetzen – außer vielleicht in gewissen Notfällen, die aber seit Jahrhunderten nicht eingetreten waren.
Mit einem Kopfnicken wies Rugad den Wachen die Richtung. Ein paar von ihnen blieben stehen, so daß er an ihnen vorbeigehen konnte. Während seiner Unterredung mit dem Doppelgänger hatte Rugad alle Wachen außer Hörweite geschickt.
Nicht, daß das nötig gewesen wäre.
Die Informationen des Doppelgängers waren im besten Falle versteckte Hinweise, wahrscheinlich aber völlig wertlos.
Leider hatte sich nur ein kleiner Teil von Tels Bericht auf Magie bezogen, jedenfalls nach Rugads Ansicht. Die Legende von den Lichtern des Mittags erinnerte ihn entfernt an den Feuerzauber eines Zaubermeisters, aber die Art, in der das Zeremoniell durchgeführt wurde, hörte sich ziemlich förmlich an. Kugeln und Lichter paßten nicht zur Magie eines Zaubermeisters, jedenfalls keines Zaubermeisters, dem Rugad bis jetzt begegnet war.
Die Eigenschaften des Weihwassers waren niemandem bekannt gewesen, bis sie einer der Religionsführer durch Zufall entdeckt hatte. In Tels Bericht hatte nichts darauf hingedeutet, daß Weihwasser ein tödliches Gift war. Man hatte damit lediglich ein Schwert gereinigt, welches wiederum den Gründer der Religion, den Roca, getötet hatte.
Rugad trat über die Schwelle des Festsaales. Außer ihm und seinen Leibwachen war der große Raum leer. Durch die nach Südwesten gerichteten, hohen Fenster strömte das Sonnenlicht herein, aber man sah auch die schwarzen Qualmwolken von den Bränden im Landesinneren. Trotzdem empfand Rugad die Helligkeit nach dem Verhör in der dumpfen, düsteren Zelle als wohltuend. In den Verliesen roch es nach Verwesung und Blut, und die Erinnerung an vergangene Greueltaten schien dort noch immer in der Luft zu liegen.
Allerdings deutete nichts in der Geschichte der Inselbewohner auf derartige Ereignisse hin, jedenfalls weder in dem Zeitabschnitt, von dem ihm der Doppelgänger berichtet, noch in jenem, mit dem sich Rugad in Nye ausgiebig beschäftigt hatte.
Je länger er sich auf dieser Insel aufhielt, desto rätselhafter wurde sie ihm.
Rugad drehte der Sonne den Rücken zu und betrachtete die waffengeschmückte Wand, an der Schwerter aus allen Epochen der Inselgeschichte aufgehängt waren. Die ältesten Schwerter hingen neben der Tür. An einer Stelle war eine Lücke, wo noch der Abdruck jenes Schwertes zu sehen war, das der Schwarzkittel gestohlen hatte. Rugad fuhr mit dem Finger über die leere Stelle. Der Stein war kühl. Rugad fragte sich, ob die benachbarten Schwerter wohl auch so scharf und magisch waren.
Um das festzustellen, gab es nur eine Möglichkeit.
Rugad wandte sich zu einem der Wachsoldaten um. »Ich brauche eine Rotkappe«, befahl er barsch.
Der Mann verbeugte sich knapp, machte kehrt und verließ den Saal. Rugad verschränkte die Hände hinter dem Rücken und betrachtete wieder die Schwerter. Manche von ihnen waren blutverkrustet und rostig, andere blitzten wie frisch geputzt. Ihr Anblick ließ ein sehr kriegerisches Volk vermuten, aber da war ja noch diese verfluchte Religion. Eine Religion, die das Schwert verehrte.
Rugad fand das reichlich merkwürdig. Überall im Tabernakel und in der Religion wimmelte es von Schwertern, aber benutzt wurden sie nur bei einer einzigen religiösen Zeremonie, nämlich dem Ritual der Aufnahme.
Diese Zeremonie hatte Rugad noch nie begriffen. Er hatte Tel die Geschichte so oft wiederholen lassen, daß er sie inzwischen selbst fast auswendig konnte. Der Roca war am heiligsten aller Orte auf die »Soldaten des Feindes« gestoßen, hatte sein Schwert mit Weihwasser gereinigt und sich dann hineingestürzt. Daraufhin wurde er in Gottes Hand aufgenommen.
Allein der Wortlaut der Legende war so sonderbar, daß Rugad sie sich mehrmals hatte erzählen lassen. Jede noch so kleine Einzelheit konnte von entscheidender Bedeutung sein.
Als der Roca Gott um Gehör bat, erflehte er Schutz für sein Volk. Trotzdem wurde es von den Feinden besiegt, und es schien, daß Gott nicht zuhörte.
Das also war der Krieg, dessen Spuren Rugad überall entdeckte, aber worum es in diesem Krieg eigentlich ging, wer die Feinde waren und was aus ihnen wurde, ging aus der Überlieferung nicht
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