Fieber an Bord
Raymond als Geisel herauszugreifen, schon vor dem Angriff zu wissen, daß er an Bord sein würde, bewies einen weit schärferen Verstand, als er sonst bei Piraten üblich war.
Borlase überquerte das Deck. »Haben wir Erlaubnis, Segel wegzunehmen, Sir? Wir sind kurz vor dem Wachwechsel.« Er wartete, ungewiß, in welcher Stimmung sein Kapitän sein mochte. »Sie hatten es befohlen, Sir.«
»Ja.« Bolitho nickte. »Schicken Sie die Leute auf Station.« Es hatte keinen Sinn, die Schiffe in pechschwarzer Nacht zwischen den Inseln hindurchzuhetzen. Bolitho glaubte, Lakey erleichtert aufatmen zu hören, als die Bootsmannsmaaten die Wache an Deck pfiffen, um die Obersegel zu bergen.
Der Angriff mußte schnell und zielstrebig erfolgen. Bolitho ging nach achtern, um den auf Station rennenden Matrosen auszuweichen. Die Tempes t würde die Bucht überqueren, notfalls sogar einlaufen, während das Landekommando des Schoners das Dorf von hinten angriff. Tuke mußte sich sehr sicher fühlen Er würde nicht damit rechnen, daß ein Mann entkommen war und den Mut aufbrachte, allein ein Kanu zu nehmen und die Hauptinsel zu alarmieren.
Hoch über Deck hörte Bolitho die Zurufe der Matrosen, die sich über die Rahen beugten, um die widerspenstige Leinwand zu bezwingen.
Zwei Leute waren nicht mit ihren Arbeitskommandos auf das Schiff zurückgekehrt.
Bolitho hatte Borlase befohlen, sie nicht im Logbuch als entlaufen einzutragen, denn auf Desertion stand nur eine Strafe: der Tod. Er hatte erfahren, daß Hardacres Dorf eine heiv a – ein Fest – zur Begrüßung der beiden Schiffe geplant hatte, mit Tänzen und zweifellos Mengen von dem Getränk, das ihm den Atem benommen und wie Feuer in seiner Kehle gebrannt hatte.
Zwei Flüchtige unter der gesamten Besatzung, das war bei den verführerischen Verhältnissen kein schlechtes Ergebnis. Wenn die Leute freiwillig zurückkehrten, würde er noch einmal darüber nachdenken. Wenn nicht, endeten sie wahrscheinlich als unfreiwillige »Freiwillige« in Hardacres Miliz, sobald die Fregatte endgültig abgesegelt war.
Er dachte über Hardacre nach und konnte nicht anders, als widerwillige Bewunderung für ihn zu empfinden. Seine Motive wurden zwar durch seine Machtgier etwas verschleiert, aber seine Zuneigung für die Eingeborenen und ihre Inselwelt war zweifellos aufrichtig. Doch er würde gegen Raymond verlieren. Das ging Idealisten gegenüber Leuten dieser Sorte immer so.
Bolitho trat zum Steuerrad und blickte auf den Kompaß: Nord zu West. Er nickte dem Rudergänger zu.
»Recht so.«
»Aye aye, Sir.« Die Augen des Mannes schimmerten schwach in den letzten Strahlen des Sonnenuntergangs. Bolitho hörte Borlase mit seiner schrillen Stimme Befehle geben.
Als kommissarischer Erster Offizier würde er keinerlei Fehler durchgehen lassen. Nach seinen jüngsten Erfahrungen und dem sich anschließenden Verfahren vor dem Kriegsgericht konnte er sich das nicht erlauben.
Bolitho wollte versuchen, ein paar Stunden Schlaf zu finden. Noch einmal ließ er den Blick über sein Schiff schweifen, spürte den leichten Druck von Wind und Ruder, lauschte auf die vertrauten Geräusche des Riggs und der Segel. Sie waren so sehr Bestandteil seines Daseins geworden, daß er bewußt hinhören mußte, um sie wahrzunehmen.
Allday sah in der Kajüte Noddall zu, der einen Krug mit frischem Trinkwasser füllte und ihn neben zwei Zwiebacke stellte.
Bolitho dankte ihm und ließ sich von seinem Bootsführer Rock und Hut, die Wahrzeichen seiner Kommandogewalt, abnehmen. Er musterte die Mahlzeit auf seinem Tisch: Wasser und Zwieback. Genau die gleiche Kost wie im Gefängnis der Flotte, dachte er.
Allday fragte: »Soll ich Ihre Koje bereitmachen, Captain?«
»Nein. Ich lege mich hier hin.«
Bolitho ließ sich auf der Heckbank nieder und verschränkte die Hände hinter dem Kopf. Durch die Heckfenster konnte er die ersten Sterne wahrnehmen. Ihr Licht wurde von dem dicken Glas gebrochen, so daß es wie winzige Lanzen herabstach.
Er dachte an Viola, stellte sich vor, wie sie in ihrem fremden Bett lag, auf das Grollen und Kreischen vom Wald her lauschte. Immerhin würde ihre Zofe bei ihr sein und ihre neue Herrin auf ihre stille, verstörte Weise beschützen.
Sein Kopf sank zur Seite, und er war auf der Stelle eingeschlafen.
Allday streifte ihm die Schuhe ab und hob die Laterne vom Decksbalken. »Schlafen Sie gut, Captain.« Bedrückt schüttelte er den Kopf. »Sie machen sich genug Sorgen für ein ganzes
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