Fiebertraum
und zerrissen und stellenweise aufgefressen vom Moder und Schimmelpilz. Grüne Flecken breiteten sich darauf aus wie Krebsgeschwülste, die die Seele des Dampfers auffressen wollten. Jemand hatte das Oberlicht übermalt, hatte das gesamte bunte Glas mit schwarzer Farbe gestrichen. Es war dunkel. Die lange marmorne Bar war mit Staub bedeckt. Kabinentüren hingen zerbrochen und zerschmettert in den Angeln. Ein Leuchter war herabgestürzt. Sie umrundeten den Haufen Glasscherben. Ein Drittel der Spiegel war gesprungen oder fehlte ganz. Der Rest war blind geworden, die Silberbeschichtung löste sich ab oder färbte sich schwarz.
Als sie zum Sturmdeck hinaufstiegen, war Marsh froh, die Sonne wieder zu sehen. Er überprüfte erneut sein Gewehr. Das Texasdeck befand sich über ihnen; die Kabinentüren waren geschlossen und warteten. »Ist er noch immer in der Kapitänskabine?« fragte Marsh. Joshua nickte. Sie stiegen über die kurze Treppe vollends auf das Texasdeck und gingen auf die betreffende Tür zu.
Im Schatten der Texasveranda wartete Sour Billy Tipton auf sie. Wären nicht seine Augen gewesen, hätte Abner Marsh ihn niemals wiedererkannt. Sour Billy war genauso heruntergekommen wie das Schiff. Er war schon immer sehr mager gewesen. Doch nun war er nicht mehr als ein lebendes Skelett, dessen scharfe Knochen sich durch die gelbe Haut drückten. Die Haut sah aus, als wäre sie jahrelang der Witterung ausgesetzt gewesen. Das Gesicht war ein verfluchter Schädel, ein gelblicher Schädel mit Pockennarben. Fast alle Haaren waren ihm ausgefallen, und der Kopf war mit Schorf und leuchtendroten Flecken rohen Fleisches übersät. Bekleidet war er mit schwarzen Lumpen, und seine Fingernägel waren mindestens zehn Zentimeter lang. Nur die Augen waren noch dieselben: eisfarben und irgendwie fiebernd, starrend. Sie versuchten einzuschüchtern, wollten aussehen wie Vampiraugen, so wie Julian sie hatte. Sour Billy hatte gewußt, daß sie kamen. Er mußte sie gehört haben. Als sie um die Ecke bogen, war er da, hielt sein Messer in der Hand, in seiner tödlichen, erfahrenen Hand. Er sagte: »Nun . . . «
Abner Marsh spannte die Schrotflinte und feuerte beide Läufe ab, mitten auf seine Brust. Marsh wartete nicht erst auf das zweite ›Nun‹. Diesmal nicht. Das Gewehr brüllte auf, schlug hart zurück und rammte schmerzhaft Marshs Arm. Sour Billys Brust färbte sich an hundert Stellen rot, und der Aufprall warf ihn nach hinten. Das verfaulte Geländer der Texasveranda gab hinter ihm nach, und er krachte hinunter auf das Sturmdeck. Das Messer immer noch in der Hand haltend, versuchte er auf die Füße zu kommen. Er schwankte und stolperte benommen vorwärts wie ein Betrunkener. Marsh sprang ihm nach, auf das Sturmdeck hinunter, und lud das Gewehr nach. Sour Billy griff nach seiner Pistole, die ihm aus dem Hosenbund ragte. Marsh verpaßte ihm zwei weitere Ladungen und blies ihn regelrecht vom Sturmdeck hinunter. Die Pistole entfiel seiner Hand, und Abner hörte Billy aufschreien und auf irgend etwas unten aufschlagen. Er blickte hinab auf das Vorderdeck. Billy lag dort mit dem Gesieht auf den Holzbohlen, der Körper war unnatürlich verrenkt, und ein roter Fleck breitete sich unter ihm aus. Er hielt immer noch das verdammte Messer umklammert, aber es sah so aus, als könnte er damit nicht mehr allzuviel Schaden anrichten. Abner Marsh knurrte, holte zwei frische Patronen aus der Tasche und drehte sich zum Texasdeck um.
Die Tür der Kapitänskabine stand weit offen, und Damon Julian stand auf der Texasveranda, sah Joshua an, das fleischgewordene bleiche Böse schlechthin mit schwarzen und seltsam lockenden Augen. Joshua York stand reglos da wie ein Mann in Trance.
Marsh riß den Blick los und richtete ihn auf die Schrotflinte in seiner Hand und auf die frischen Patronen. Tu so, als sei er gar nicht da, sagte er sich. Du stehst in der Sonne, er kann nicht zu dir kommen, schau ihn nicht an, sondern lad nach, lad das Gewehr und jag ihm beide Ladungen mitten in sein gottverdammtes Gesicht, während Joshua ihn auf die Stelle bannt.
Die Hand zitterte ihm. Er zwang sich, sie ruhigzuhalten, und lud die erste Patrone.
Und Damon Julian lachte. Beim Klang dieses Gelächters blickte Marsh unwillkürlich hoch, während er die zweite Patrone immer noch in der Hand hielt. Julians Lachen klang so melodisch, es war soviel Wärme und Humor darin, daß es einem schwerfiel, vor ihm Angst zu haben und sich daran zu erinnern, was er war und zu
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