Fiebertraum
Staubkörnchen. Die letzten Schatten stahlen sich davon und verschwanden im Unterholz. »Warum, zum Teufel, jetzt?« fragte Marsh und musterte York erneut stirnrunzelnd. »Wenn es nicht um die Natchez und die Robert E. Lee geht, worum geht es dann? Was unterscheidet diesen Tag von den letzten dreizehn Jahren, daß Sie mir plötzlich einen Brief schreiben?«
»Cynthia ist schwanger«, sagte Joshua. »Mit meinem Kind.« Abner erinnerte sich an die Dinge, die York ihm vor so langer Zeit erzählt hatte. »Ihr habt gemeinsam jemanden getötet.«
»Nein. Zum erstenmal in der Geschichte unseres Volks erfolgte die Empfängnis ohne Beteiligung des roten Durstes. Cynthia trinkt mein Elixier schon seit mehreren Jahren. Sie wurde sexuell . . . empfänglich . . . sogar ohne das Blut, ohne das Fieber. Ich reagierte. Es war überwältigend, Abner. So stark wie der Durst, aber anders, reiner. Ein Durst nach Leben, und nicht nach Tod. Sie wird sterben, wenn ihre Zeit kommt, wenn Ihr Volk nicht helfen kann. Und das würde Julian niemals gestatten. Und dann ist da noch das Kind, an das man denken muß. Ich will nicht, daß es verdorben wird, daß Damon Julian es unterwirft. Ich möchte, daß seine Geburt ein neuer Anfang für unsere Rasse wird. Ich mußte etwas unternehmen.«
Ein gottverdammtes Vampirbalg, dachte Abner Marsh. Er sollte Damon Julian wegen eines Kindes gegenübertreten, das vielleicht genauso wurde wie Julian. Vielleicht aber auch nicht. Vielleicht würde es so wie Joshua. »Wenn Sie irgend etwas unternehmen wollen«, sagte Marsh, »warum sind wir dann nicht längst dort drin, anstatt hier draußen herumzuquatschen?« Er wies mit der Gewehrmündung auf den riesigen gestrandeten Dampfer.
Joshua York lächelte. »Die Lüge tut mir leid«, sagte er. »Abner, einen zweiten wie Sie gibt es nicht. Ich bedanke mich bei Ihnen.«
»Lassen Sie es gut sein«, knurrte Marsh unwirsch und reagierte verlegen auf Joshuas Dankbarkeit. Er verließ den Schatten unter den Bäumen und ging auf die Fiebertraum und auf die verrotteten, mit roten Flecken übersäten Indigotanks zu, die hinter ihr aufragten. Als er zum Wasser gelangte, schnappte der Schlamm nach seinen Stiefeln und gab obszöne schmatzende Geräusche von sich, als er sie herauszog. Marsh vergewisserte sich noch einmal, daß das Gewehr geladen war. Dann fand er eine alte verwitterte Planke im seichten stillen Wasser, lehnte sie gegen den Rumpf und kletterte mit ihrer Hilfe auf das Hauptdeck des Dampfschiffs. Joshua York, der sich geschmeidig und lautlos bewegte, folgte ihm.
Vor ihnen ragte die breite Treppe auf und führte in die Dunkelheit des Kesseldecks zu den mit Vorhängen versehenen Kabinen, wo ihre Feinde schliefen, und weiter zu der hallenden Weite des großen Salons. Marsh ging nicht sofort weiter. »Ich möchte mir meinen Dampfer anschauen«, sagte er schließlich, und er ging um die Treppe herum zum Maschinenraum.
Lötnähte waren bei einigen Kesseln gerissen. Rost hatte sich durch die Dampfleitungen gefressen. Die großen Maschinen waren braun und blätterten stellenweise ab. Marsh mußte vorsichtig auftreten, damit sein Fuß nicht durch ein verfaultes Bodenbrett brach. Er ging zu einem Ofen. Darin lag kalte Asche und noch etwas anderes, etwas Braunes und Gelbes, stellenweise Schwarzes. Er griff hinein und holte einen Knochen heraus. »Knochenreste in der Feuerung«, sagte er. »Das Deck durchgefault. Die Eisen für die Sklaven immer noch auf dem Deck verschraubt. Rost. Verdammt. Verdammt noch mal! « Er wandte sich um. »Ich habe genug gesehen.«
»Ich hatte Sie gewarnt«, sagte Joshua York.
»Ich wollte sie sehen.« Sie gingen zurück in den Sonnenschein auf dem Vorderdeck. Marsh blickte zurück auf die Schatten, auf die Schatten all dessen, was sie einst gewesen war und wovon er in den Jahren geträumt hatte. »Achtzehn große Kessel«, sagte er heiser. »Whitey hat die Maschinen geliebt.« »Abner, kommen Sie! Wir müssen erledigen, weswegen wir gekommen sind.«
Sie stiegen die breite Treppe hinauf und bewegten sich dabei vorsichtig. Der Schleim auf den Stufen stank bestialisch und war schlüpfrig. Marsh stützte sich zu schwer auf einen mit Schnitzereien verzierten Pfosten, und er brach ihm unter der Hand weg. Die Promenade war grau und verlassen und wirkte unsicher. Sie betraten die Hauptkabine, und Marsh sah sich einem hundert Meter langen Saal voller Verfall und Tristheit und zugrunde gegangener Schönheit gegenüber. Der Teppich war voller Flecken
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