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Fiebertraum

Fiebertraum

Titel: Fiebertraum Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: George R.R. Martin
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sich kräuselte und abblätterte. Die weiße Farbe an den Geländern und den Säulen hatte am meisten gelitten, und dort war sie auch am grauesten, und hier und da gewahrte Marsh etwas Grünes, das am Holz klebte und sich auszubreiten schien. Er begann zu zittern, als er sie betrachtete. Diese Feuchtigkeit und Hitze und Fäulnis, dachte er, und dann war ihm irgend etwas ins Auge geraten. Ärgerlich rieb er daran herum. Die Schornsteine sahen schief aus, weil die Fiebertraum leichte Schlagseite hatte. Spanisches Moos bedeckte eine Seite ihres Ruderhauses und hing auch von ihrem Fahnenmast herab. Die Seile, die ihren Backbordsteg gehalten hatten, waren längst gerissen, und der Steg war auf das Vorderdeck gestürzt. Die breite Treppe, diese großzügige, prächtige Konstruktion aus poliertem Holz, war mit feuchtglänzendem Schimmelpilz bedeckt. Hier und da entdeckte Marsh Wildblumen, die sich in den Fugen zwischen den Decksplanken eingenistet hatten. »Gottverdammt«, sagte er, »Gottverdammt, Joshua, wie konnten Sie sie so verkommen lassen? Wie, zum Teufel, haben Sie . . . « Aber dann wurde seine Stimme brüchig und versagte, und Abner Marsh fand keine Worte mehr.
    Joshua York legte ihm sanft eine Hand auf die Schulter und murmelte: »Es tut mir leid, Abner. Ich habe alles versucht.«
    »Oh, ich weiß«, schimpfte Marsh. »Das war er, der ihr das angetan hat, der sie in Fäulnis verwandelt hat wie alles, was er berührt. Oh, ich weiß, wer es war, das weiß ich verdammt genau. Aber warum, zum Teufel, haben Sie mich angelogen, Mister York? Diese ganze Geschichte mit der Natchez und der Robert E. Lee . Verdammt! Sie wird niemanden mehr einholen. Sie wird nicht einmal flottkommen.« Sein Gesicht war puterrot, und seine Stimme wurde immer lauter. »Herrgott im Himmel, sie bleibt hier liegen, bis sie ganz verfault ist, verdammt noch mal, und das wußten Sie ganz genau!« Er verstummte unvermittelt, bevor er noch richtig losbrüllen und alle Vampire aufwecken konnte.
    »Ich wußte es«, gab Joshua York mit sorgenvollen Augen zu. Die Morgensonne war hinter ihm aufgegangen und ließ ihn bleich und schwach aussehen. »Aber ich brauchte Sie, Abner. Es war nicht alles eine Lüge. Julian hatte wirklich den Plan, den ich Ihnen geschildert habe, aber Billy machte ihm klar, in was für einem schlechten Zustand sich die Fiebertraum befindet, und er gab den Plan sofort auf. Der Rest stimmt jedoch.«
    »Wie, zum Teufel, kann ich Ihnen glauben?« fragte Marsh ausdruckslos. »Nach allem, was wir miteinander erlebt haben, haben Sie mich angelogen. Fahren Sie zur Hölle, Joshua York, Sie sind mein Partner, und Sie lügen mich an!«
    »Abner, bitte hören Sie doch! Bitte! Ich muß es Ihnen erklären.« Er legte eine Hand auf die Stirn und blinzelte. »Na los doch«, sagte Marsh, »reden Sie schon! Ich höre, verdammt noch mal.«
    »Ich brauchte Sie. Ich wußte, daß ich Julian nicht allein besiegen kann. Die anderen . . . sogar die, die auf meiner Seite sind, sie können ihm nicht standhalten, nicht diesen Augen . . . er kann sie dazu bringen, alles zu tun. Sie waren meine einzige Hoffnung, Abner. Sie und die Männer, von denen ich annahm, daß Sie sie mitbringen. In allem steckt eine schmerzliche Ironie.
    Wir, das Volk der Nacht, haben Tausende von Jahren vom Tagvolk gelebt, haben es gejagt und gehetzt, und nun muß ich Hilfe bei Ihnen suchen, um meine Rasse zu retten. Julian wird uns vernichten. Ihr Traum ist vielleicht verfault, Abner, aber meiner kann noch wahr werden! Ich habe Ihnen einmal geholfen. Ohne mich hätten Sie sie niemals bauen können. Helfen Sie mir jetzt!«
    »Sie hätten mich darum bitten können«, sagte Marsh. »Sie hätten mir auch die gottverdammte Wahrheit sagen können.«
    »Ich wußte nicht, ob Sie mitgekommen wären, mein Volk zu retten. Ich wußte aber, daß Sie ihretwegen sofort mitgehen würden.«
    »Ich wäre Ihretwegen mitgegangen, verdammt noch mal. Wir sind Partner, oder nicht? Nun, sind wir das nicht?« Joshua York sah ihm ernst in die Augen. »Jawohl«, sagte er.
    Marsh blickte hinauf zu der grauen verrotteten Ruine, die früher seine stolze Lady gewesen war, und sah, daß ein verdammter Vogel sein Nest in einem ihrer Schornsteine gebaut hatte. Andere Vögel waren da und flatterten von Baum zu Baum und gaben Zwitscherlaute von sich, die Abner zu verspotten schienen. Das Licht der Morgensonne fiel in hellgelben Strahlen auf den Dampfer, wurde durch das Laub der Bäume gefiltert und wimmelte von

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