Fiese Finsterlinge
Fenster.
Alles war mit Graffiti bedeckt. Es war kein schöner Anblick. Keine leuchtenden Sonnen oder freudig grinsenden Gesichter. Stattdessen verunstalteten hässliche Schmierereien die Fassaden – hastig hingesprühte Spitznamen und Symbole der Leute, die diese Gemäuer für sich beanspruchten. Einige der Namen waren mit unheilvollen roten Linien durchgestrichen, und es gab Botschaften, die das Gebiet als Territorium verschiedener Gangs auswiesen. Sprüche, die Eindringlinge vor dem sicheren Tod warnten, vervollständigten das furchteinflößende Bild.
»Jemand sollte diese Schmierereien entfernen«, sagte Sandy und verzog angewidert das Gesicht.
»Sieh mich nicht so an«, entgegnete Richie. »Ich schrubbe keine Wände. Ich hab nur eingewilligt, bei der Bibliothekssache zu helfen. Außerdem sieht’s so aus, als wären die letzten Leute, die sich an den Graffiti zu schaffen gemacht haben, durchgestrichen worden .«
Lilli runzelte die Stirn. »Kaum zu glauben, dass Menschen mit so unschuldigen Farben ein so hässliches Karma erzeugen.« Sie öffnete die Tür, um auszusteigen.
»Was hast du vor?«, fragte Richie.
»Ich meine, es ist doch nicht die Schuld der Farben«, fügte Lilli hinzu.
Sandy und Richie eilten ihr nach und hielten in alle Richtungen Ausschau nach Hinweisen auf Gefahr, während Lilli die Hausmauern anblickte.
»Das meiste ist reiner Vandalismus«, sagte sie. »Aber selbst inmitten dieses Chaos steckt einige Schönheit.«
Sandy stand in der Nähe des Sicherheit verheißenden Abschleppwagens. »Tatsächlich? Ich sehe keine.«
»Zoot, bist du da?«, rief Lilli.
Zoot nahm aus seiner Verkleidung als Rundschwanz-Seekuh auf Lillis Schulter eine dreidimensionale Gestalt an und rutschte an ihrem Arm entlang zu Boden. Er trat vor und verschmolz mit einer Ziegelsteinmauer voller Graffiti. Lilli bemerkte, dass Sandy Zoot sogar außerhalb des Hauses erkennen konnte. Es stimmte, dass ihre Freundin kein Hüter war und nicht die Fähigkeit besaß, Geschöpfe des Chaos in der geordneten Welt der Menschen zu erkennen. Aber die Dämonen wurden kühn, seit sie die Stadt übernommen hatten. Sie begannen sich zu zeigen, sogar Zoot.
»Schaut her«, sagte Lilli.
Sie wedelte mit der Hand, und Zoot begann, in zweidimensionaler Gestalt in den Graffiti herumzuschwimmen, auf der Suche nach kunstvollen Bildern. Bald erhellten sich bestimmte Stellen zwischen dem Gekritzel und Geschmiere. Sobald er auf ein verborgenes Kunstwerk stieß, breitete es sich aus, drang an die Oberfläche und überdeckte die Amateur-Schmierereien.
»Wow! Abgefahren!, rief Richie etwas zu laut. Seine Stimme schallte durch die leeren Straßen und hinein in Belltowns düstere Gassen.
Lilli bedeutete den von Zoot entdeckten Kunstwerken, zu ihr zu kommen, und sie gehorchten. Die schönen Bilder, die eben noch in dem hässlichen Durcheinander vergraben gewesen waren, glitten zur Mauerkante hinab und flossen dann über den Asphalt wie ein Schwarm hell leuchtender Mantarochen. Ihr intensiver chemischer Geruch erfüllte
die Luft. Zoot watschelte neben ihnen her und lenkte sie auf Lilli zu wie ein Hund, der eine Schafherde vor sich hertreibt. Lilli ließ ihre geblümte Schultertasche am Arm hinabgleiten und hielt sie auf. Die Spray-Gemälde, Tintenzeichnungen und Kreidebilder strömten hinein.
»Gut gemacht, Zoot«, sagte sie. »Ausgezeichnet.« Sie wandte sich an Sandy und Richie. »Ich könnte die Bilder auch selbst von der Wand abziehen, aber Zoot braucht Bewegung, und er liebt es, sie zusammenzutreiben.«
Sandy betrachtete die Stellen, wo eben noch die Kunstwerke gehangen hatten. Nun waren es nur leere Flächen auf der Mauer. »Mensch! Du hast binnen Sekunden eine Menge Zeug entsorgt.«
Lilli klopfte auf ihre Tasche. »Ich habe nichts entsorgt . Ich habe Kunstwerke gerettet, die es wert sind, gerettet zu werden. «
»Und was ist mit dem Rest?«, fragte Sandy.
»Dranlassen«, sagte Richie. »Sind doch bloß irgendwelche Farbkleckse. Sie sind nichts. Und den Typen, die sie hinsprühen, würde es wahrscheinlich nicht gefallen, wenn wir uns daran vergreifen.«
»Moment mal!«, echauffierte sich Sandy. »Wir sollten auch den Müll von der Mauer runterholen, nicht nur eine Kunstsammlung starten. Wenn eine einzige Schmiererei dranbleibt, werden weitere folgen. Die Menschen werden sich nicht mehr in diese Gegend trauen, wenn es hier weiterhin wie in einem Kriegsgebiet aussieht.«
»Ja, Menschen wie ich. Die da würde ich auf keinen Fall
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