Fillory - Die Zauberer
»Bingo«:
Es war einmal in alter Zeit
Ein Knab voll Stärke und Mut.
Er schwang ein Schwert und ritt ein Pferd
Und trug den Namen Knut.
»Oh nein!«, quietschte Julia. »Hör auf!«
James hatte das Lied vor Jahren für einen Talentwettbewerb in der Schule geschrieben. Er sang es immer noch gerne und mittlerweile konnten alle es längst im Schlaf. Julia schubste den ungerührt weitersingenden James gegen einen Mülleimer, und als das nicht half, zog sie ihm die Wollmütze ab und schlug ihm damit auf den Kopf.
»Meine Frisur! Meine schöne Bewerbungsfrisur!«
König James, dachte Quentin. Le roi s’amuse.
»Ich will euch ja nicht den Spaß verderben«, bemerkte er, »aber wir haben nur noch zwei Minuten.«
»Oh je, oh je!«, zwitscherte Julia. »Die Herzogin! Wir werden uns verspäten!«
Ich sollte glücklich sein, dachte Quentin. Ich bin jung, ich lebe, ich bin gesund. Meine Eltern sind ziemlich in Ordnung. Mein Vater gibt medizinische Fachliteratur heraus, meine Mutter arbeitet als Werbeillustratorin, auch wenn sie viel lieber Malerin geworden wäre. Ich bin ein etabliertes Mitglied der Mittel-Mittel-Klasse. Nur mein IQ ist höher, als es die meisten Leute überhaupt für möglich halten.
Und doch: Als er so in seinem schwarzen Mantel und seinem grauen Bewerbungsanzug die Fifth Avenue in Brooklyn entlangschlenderte, wusste Quentin, dass er nicht glücklich war. Aber warum nicht? Er hatte doch akribisch alle Ingredienzien des Glücks zusammengetragen. Er hatte die nötigen Rituale vollführt, die Kerzen angezündet, die Opfer gebracht. Doch das Glück weigerte sich zu erscheinen, wie ein ungehorsamer Geist. Ihm fiel nichts mehr ein, was er noch hätte unternehmen können.
Er folgte James und Julia vorbei an Kneipen, Waschsalons, hippen Boutiquen, Handygeschäften mit Neonbeleuchtung und einer Bar, in der alte Leute schon am frühen Nachmittag tranken. Sie passierten eine backsteinbraune Gedenkhalle für Kriegsveteranen mit Plastik-Gartenmöbeln auf dem Bürgersteig vor dem Eingang. Das alles untermauerte nur seine Überzeugung, dass sein wahres Leben, das, welches er eigentlich hätte leben sollen, durch eine kosmische Verwaltungspanne fehlgeleitet worden war. Es war woandershin gelenkt worden, hatte eine andere Person erwischt, und er hatte dafür dieses falsche Instantleben erhalten.
Vielleicht würde sein richtiges Leben in Princeton beginnen. Wieder übte er den Trick mit der Münze in der Manteltasche.
»Spielst du mit deinem Schwanz, Quentin?«, fragte James. Quentin errötete.
»Nein, ich spiele nicht mit meinem Schwanz.«
»Du brauchst dich nicht dafür zu schämen«, beschwichtigte ihn James und klopfte ihm auf die Schulter. »Macht den Kopf frei.«
Der Wind pfiff durch den dünnen Stoff von Quentins Bewerbungsanzug; dennoch knöpfte er seinen Mantel nicht zu. Er ließ sich von der Kälte durchdringen. Es machte ihm nichts aus, er war sowieso längst anderswo.
Er war in Fillory.
Fillory und weiter – so hieß eine Reihe von fünf Romanen des Schriftstellers Christopher Plover, die in den 1930er Jahren in England erschienen waren. Sie handelten von den Abenteuern der fünf Chatwin-Kinder in einem Zauberland, das sie entdeckten, während sie Urlaub bei ihren exzentrischen Verwandten auf dem Land machten. Das heißt, eigentlich waren sie gar nicht im Urlaub. Ihr Vater watete bei Passchendaele bis zu dem Hüften in Schlamm und Blut und ihre Mutter war mit einer geheimnisvollen, vermutlich psychisch bedingten Krankheit in ein Sanatorium eingewiesen worden. Deswegen hatte man die Kinder in aller Eile aufs Land geschickt.
Doch all diese traurigen Ereignisse spielten nur ganz am Rande eine Rolle. Im Vordergrund stand, dass die fünf Kinder drei Jahre lang jeden Sommer ihre verschiedenen Internate verließen und in den Norden Englands zu Onkel und Tante zurückkehrten. Und jedes Mal fanden sie ihren geheimen Weg nach Fillory, wo sie Abenteuer erlebten, verzauberte Länder erkundeten und die dort lebenden friedlichen Wesen gegen bedrohliche und mächtige Feinde verteidigten. Der bizarrste und hartnäckigste aller Gegner war eine verschleierte Gestalt, die nur die Wächterin genannt wurde. Sie besaß Macht über die Zeit und drohte, mit ihren Flüchen ausgerechnet an einem besonders trüben, regnerischen Nachmittag Ende September um Punkt fünf Uhr die Zeit stillstehen zu lassen und ganz Fillory für immer in diesem Moment gefangenzuhalten.
Wie fast alle Kinder hatte Quentin die
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