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Fillory - Die Zauberer

Fillory - Die Zauberer

Titel: Fillory - Die Zauberer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lev Grossman
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erwischte. Sein Handy klingelte: sein Vater. Quentin ignorierte den Anruf. Aus den Augenwinkeln heraus meinte er, etwas hinter dem Farndickicht entlanghuschen zu sehen, doch als er sich umblickte, war es verschwunden. Er kämpfte sich durch abgestorbene Gladiolen, Petunien, schulterhohe Sonnenblumen, Rosenbüsche – trockene, starre Stängel und Blüten, im Tod zu dekorativen Tüllornamenten gefroren.
    Seinem Gefühl nach musste er sich jetzt in Höhe der Seventh Avenue befinden. Doch er drang immer weiter vor, wobei er Gott weiß was für giftige Pflanzen streifte. Oh nein, bloß kein beschissener Giftefeu, der hätte ihm gerade noch gefehlt. Merkwürdigerweise ragten zwischen all den welken Pflanzen noch hier und da einige frische grüne auf. Weiß der Himmel, wo sie ihre Nahrung herbekamen. Plötzlich lag ein süßlicher Geruch in der Luft.
    Er hielt inne. Auf einmal war es ganz still. Kein Autohupen, keine aufgedrehten Radios, keine Sirenen. Sein Handy hatte aufgehört zu klingeln. Es war bitterkalt und seine Finger fühlten sich taub an. Sollte er umkehren oder weitergehen? Er zwängte sich weiter durch eine Hecke hindurch, wobei er wegen der kratzigen Zweige die Augen schloss und das Gesicht verzog. Er stolperte über irgendetwas, einen alten Stein. Plötzlich wurde ihm übel. Er schwitzte.
    Als er die Augen wieder öffnete, stand er am Rande einer riesigen, weitläufigen, vollkommen ebenen grünen Rasenfläche, die von Bäumen umgeben war. Der Geruch nach frischem Gras war überwältigend. Die Sonne schien ihm heiß ins Gesicht.
    Die Sonne. Sie stand im falschen Winkel. Und wo zum Teufel waren die Wolken? Der Himmel war gleißend blau. Quentins Gleichgewichtssinn war völlig aus dem Lot. Ihm wurde speiübel. Er hielt ein paar Sekunden lang die Luft an. Dann blies er eiskalte Winterluft aus seinen Lungen und atmete stattdessen warme Sommerluft ein. Sie war gesättigt mit Blütenstaub. Er nieste.
    Inmitten der weitläufigen Rasenfläche stand ein großes Haus aus honigfarbenem Stein und grauem Schiefer, geschmückt mit Schornsteinen, Giebeln, Türmen, Dächern und Nebendächern. In der Mitte, über dem Haupthaus, ragte würdevoll ein hoher Uhrenturm auf, der sogar Quentin erstaunte, weil er so gar nicht zu dem Gebäude passte, das ansonsten wie ein Privathaus aussah. Die Uhr war im venezianischen Stil gestaltet: ein einziger spitzer Zeiger kreiste auf einem Blatt mit vierundzwanzig Ziffern. Über einem Flügel erhob sich eine mit Grünspan überzogene Kupferkuppel, die wie ein Observatorium aussah. Zwischen Haus und Rasen erstreckte sich ein Garten mit hübsch gestalteten Terrassenbeeten, Büschen, Hecken und Springbrunnen.
    Quentin war sich relativ sicher, dass er nur einige Sekunden lang ganz still stehen bleiben musste, damit alles wieder in seinen normalen Zustand zurückkehrte. Er fragte sich, ob er gerade Opfer eines fatalen neurologischen Fehlprozesses wurde. Vorsichtig spähte er über die Schulter zurück. Keine Spur von dem Garten hinter ihm, nur einige große, dicht belaubte Eichen, die Vorhut eines offenbar recht ansehnlichen Waldes. Kalter Schweiß rann ihm unter den Achseln hervor und lief über den Brustkorb. Es war heiß.
    Quentin ließ seine Tasche auf den Rasen fallen und schlüpfte aus seinem Mantel. Ein Vogel durchbrach müde zwitschernd die Stille. Ein Stück von Quentin entfernt lehnte ein großer, dünner Teenager an einem Baum, rauchte eine Zigarette und beobachtete ihn.
    Er schien ungefähr in Quentins Alter zu sein. Er trug ein Hemd mit spitzem Kragen und schmalen, blassrosa Streifen. Er sah Quentin nicht an, sondern zog an seiner Zigarette und blies den Rauch in die Sommerluft. Die Hitze schien ihm nichts auszumachen.
    »Hey!«, rief ihm Quentin zu.
    Jetzt sah der Junge zu ihm herüber. Er nickte Quentin kurz zu, antwortete aber nicht.
    Quentin ging zu ihm hinüber, so lässig er konnte. Er versuchte, sich seine Ratlosigkeit nicht anmerken zu lassen. Sogar ohne seinen Mantel schwitzte er wie ein Bär. Er fühlte sich wie ein viel zu elegant gekleideter Engländer, der einen skeptischen Inseleingeborenen zu beeindrucken versucht. Aber eines musste er unbedingt wissen.
    »Ist das …?« Quentin räusperte sich. »Sind wir hier in Fillory?«, fragte er schließlich und blinzelte in die grelle Sonne.
    Der junge Mann sah Quentin sehr ernsthaft an und zog dann noch einmal lange an seiner Zigarette, dann schüttelte er langsam den Kopf und atmete dabei den Rauch aus.
    »Nein«, sagte er.

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