Final Cut - Etzold, V: Final Cut
im vierten Stock sich einen Weg in die Wohnung darunter sucht, bis es sich als hässlicher rotbrauner Fleck an der Decke zeigt und die ersten Tropfen drohend nach unten fallen.
Sie sind wie Kinder , dachte Clara. Menschen, die glauben, die Bedrohung sei nicht da, solange sie die Augen geschlossen halten. Wenn ich sie nicht sehe, sehen sie mich auch nicht. Das Geschrei wurde erst dann groß, wenn diejenigen, die stets beschwichtigten und verharmlosten, selbst getroffen wurden. Wenn eine Journalistin der selbst ernannten »liberalen« Medien von hinten mit Zaunlatten halb totgeschlagen wurde und dann – willkommen in der Realität – herausfand, dass die Schläger jugendliche Wiederholungstäter waren, die auch diesmal wieder ohne Strafe davonkamen, war das Grauen da. Trotz geschlossener Augen.
Nichts überzeugt mehr als fünf Zentimeter beißender Stahl im Körper, hatte einmal ein Gruppenleiter des Mobilen Einsatzkommandos gesagt, der einem Entführer beim Verhör ein Messer in den Oberschenkel gebohrt und es dann gedreht hatte. Bei fünfundvierzig Grad Drehung hatten die Beamten gewusst, wo Frau und Tochter jenes Mannes versteckt gehalten wurden, den der Entführer erpressen wollte. Frau und Tochter wurden gefunden – dehydriert, psychisch am Ende und halb verhungert, aber noch am Leben. Und Karl, der Gruppenleiter, wurde mit sofortiger Wirkung entlassen und bekam eine Anzeige an den Hals.
Sie waren allein. Bellmann und Winterfeld, Hermann und MacDeath, Clara und all die anderen. Wenn sie sich nicht selbst halfen, tat es niemand.
***
Das Kinderheim der Thomas-Crusius-Stiftung sah aus, als sollte es jeden Tag geschlossen werden. Leere Korridore, rostige Fensterrahmen, bröckelnder Putz an den Wänden. Nur hier und da ein paar Kinder und ab und zu eine Schwester oder ein Aufseher.
Zehn Minuten später saß Clara im Büro von Direktor Mertens, der seine Stelle nur noch für vier Wochen innehatte und dann in einem anderen Heim arbeiten würde; wo, wusste er selbst noch nicht. Er war Mitte vierzig und ein wenig übergewichtig, aber eifrig bemüht, Clara zu helfen. Er war extra an diesem Samstag ins Heim gekommen, um mit ihr zu sprechen. Die Zeitung gelesen hatte er aber offenbar nicht, denn er hielt sich mit Fragen zum Namenlosen zurück, was Clara nur recht war. Ein Ordner mit Ausdrucken lag vor ihr, einige noch in vergilbtem Matrizenpapier mit blauer Schrift, deren Aussehen und Geruch sie an die Grundschulzeit erinnerte.
»Viel gibt es nicht mehr, wie Sie sehen«, sagte der Direktor und stellte zwei dampfende Becher Kaffee auf den Tisch. Dann setzte er sich. »Und ich bin auch erst seit fünf Jahren hier. Der damalige Direktor ist vor zwölf Jahren an einem Herzinfarkt gestorben.«
Tolle Zeugenlage , dachte Clara. Sie trank von dem heißen Kaffee und überflog die Seiten. »Gibt es irgendwo Informationen, mit wem Elisabeth ihre Zeit verbracht hat?«
Mertens schüttelte den Kopf. »Ich glaube nicht, dass es da jemals schriftliche Notizen gab, und fast dreißig Jahre später ist schon gar nicht damit zu rechnen.« Er blätterte in den Unterlagen ein paar Seiten nach vorn. »Sie ist mit ihrem Bruder hierhergekommen, nachdem ihre Eltern gestorben waren.«
»Was war passiert?«, fragte Clara.
»Autounfall, beide Eltern tot.« Mertens zuckte mit den Schultern. »Soweit ich weiß, waren es Russlanddeutsche, die hier keine Verwandten hatten. Deshalb kamen die Kinder ins Heim. Sie wieder zurückzuverschiffen war den Behörden wohl zu kompliziert. Und beide sprachen perfekt Deutsch.« Er blätterte wieder ein paar Seiten nach vorne. »Elisabeth war eines Tages plötzlich weg, nachdem ihr Freund ebenfalls verschwunden war.«
»Ihr Freund?«
»Ja, Tobias Schäfer, hier steht’s.« Mertens fuhr mit dem Finger über die Seiten. »Sie sind oft zusammen gesehen worden. Dann war Schäfer plötzlich verschwunden, und Elisabeth kurze Zeit später ebenfalls. Wir vermuten, dass sie gemeinsam ausgerissen sind.«
»Hat man je wieder von ihnen gehört?«
Mertens kniff die Lippen zusammen und schüttelte den Kopf. »Nein. Ihre Story hat mich neugierig gemacht, deshalb habe ich mir die Akte mal angeschaut, kurz bevor Sie gekommen sind. Ich wusste vorher auch nichts davon.« Er trank einen Schluck Kaffee und zog die Lippen kraus. »Jedes Heim hat seine unheimlichen Geschichten, und die Story mit Elisabeth und Tobias ist offenbar die unheimliche Geschichte dieses Heims.«
»Und Vladimir?«
»Er war Elisabeths Bruder. Auch er
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