Final Cut - Etzold, V: Final Cut
war plötzlich wie vom Erdboden verschluckt.« Mertens runzelte die Stirn. »Doch bei ihm sprach alles dafür, dass er sich umgebracht hat.«
»Sich umgebracht?«
»Ja. Er hat sich offenbar im See ertränkt, hier gleich um die Ecke.« Er zeigte mit dem Daumen nach draußen.
Clara zog die Augenbrauen zusammen. »Wurde seine Leiche gefunden?«
Mertens schüttelte den Kopf. »Hier steht jedenfalls nichts davon. Wahrscheinlich nicht.«
In Claras Kopf arbeitete es. Vladimir. Menschen, die sich in einem See ertränkten, wurden fast immer an Land gespült und dann entdeckt. Vielleicht hatte der Junge sich gar nicht umgebracht? Vielleicht hing das Verschwinden von Elisabeth und Tobias mit ihm zusammen? Aber das alles lag dreißig Jahre zurück.
»Hat man nach Vladimir gesucht?«
Mertens gähnte. »Ja. Es wurden sogar Tauchteams losgeschickt. Irgendwann haben sie dann aufgegeben. Es gab auch kaum Druck von außen. Keine Angehörigen, keine Verwandten. Man hat einen Totenschein ausgestellt, und das war’s.«
Clara schaute Mertens an. »Und wenn er gar nicht Selbstmord begangen hat und stattdessen irgendwohin verschwunden ist?«
Mertens zuckte mit den Schultern. »Da fragen Sie mich zu viel. Das alles ist lange her. Ich habe die Beteiligten von damals nie gesehen. Ich wüsste auch nicht, wohin der Junge gegangen sein könnte. Er hatte ja niemanden außerhalb des Heims. Nein, ich bin ziemlich sicher, dass er sich tatsächlich umgebracht hat. Wollen Sie wissen, warum?«
»Selbstverständlich«, sagte Clara.
»Erst sterben seine Eltern. Seine Schwester ist alles, was er noch hat. Dann brennt seine Schwester mit diesem Tobias durch. Auf einmal sind alle fort. Vater, Mutter, Familie, Schwester.« Er nickte. »Das kann zu viel sein für so ein Kind.«
Clara dachte kurz nach. Tobias oder Vladimir. Könnte einer von beiden der Killer sein? Könnte einer derjenige gewesen sein, der Elisabeth getötet hatte? War Tobias mit ihr durchgebrannt und hatte sie beseitigt? Oder hatten beide gar nicht mehr durchbrennen können, weil sie schon tot gewesen waren? Getötet von jemand anderem? Von dem, der seine Schwester nicht verlieren wollte? Von Vladimir?
»Ich danke Ihnen, Herr Mertens«, sagte Clara. »Fällt Ihnen noch jemand ein, der mit Elisabeth, Tobias oder Vladimir damals in direktem Kontakt gestanden hat? Jemand, der heute noch lebt?« Sie dachte an den alten Direktor, der an einem Herzinfarkt gestorben war.
Mertens schaute ein paar Sekunden lang zur Decke.
»Frau Borchert«, sagte er. »Dr. Silvia Borchert. Aber sie ist schon vor Jahren gestorben.«
Clara notierte sich die Angaben. Sie würde gleich Hermann anrufen wegen des Namens. »Was hat sie gemacht?«
»Sie war damals noch für kurze Zeit die Heimleiterin«, sagte Mertens, »der gute Geist des Hauses. Unter ihr wäre so ein Typ wie Ingo M. niemals eingestellt worden. Ein paar Mal hat sie die Kinder zu sich nach Hause eingeladen. Da sind dann alle mit dem Bus hingefahren. Sie hatte ein Haus, ein paar Kilometer von hier. Es dient heute als Lagerhaus und Geräteschuppen. Alle Jubeljahre fährt der Hausmeister dorthin und holt Streusalz oder irgendwas. Jedenfalls, wenige Tage, nachdem Vladimir und Elisabeth hierherkamen, wurde Frau Borchert pensioniert und hat dann den größten Teil der Zeit im Ausland gelebt, auf Mallorca, soviel ich weiß. Das Haus hat sie aber behalten bis zu ihrem Tod.«
»War sie nach ihrer Pensionierung denn nie mehr dort?«
Mertens schüttelte wieder den Kopf. »Keine Ahnung. Wenn, dann eher selten. Aber jetzt ist das Haus ja ohnehin ein Lager- und Geräteschuppen, wie ich bereits sagte. Strom und Telefon gibt es da noch, das läuft alles über unser Kinderheim, aber es würde mich nicht wundern, wenn die Bude irgendwann in sich zusammenfällt. Spätestens, wenn das Heim hier dichtgemacht wird, gehen auch da endgültig die Lichter aus.«
»Haben Sie die Adresse?«
Mertens öffnete eine Schublade und wühlte darin herum. »Sicher, eine Sekunde. Der Hausmeister könnte es ihnen genau sagen, aber der ist heute nicht hier.« Er kramte in der Schublade, bis er einen Zettel zutage förderte. »Hier haben wir’s.« Er reichte Clara den Zettel. Sie schrieb die Adresse in ihr Notizbuch und machte mit ihrem Handy noch ein Foto davon.
»Besten Dank«, sagte sie, zog ihren Mantel an und schüttelte Mertens die Hand. »Ich rufe Sie an, falls ich weitere Fragen habe, aber erst einmal sind wir durch. Vielen Dank für die schnelle Hilfe.«
Sie stieg
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